Die Hierarchie der syntaktischen Funktionen ist an vielen Stellen der Syntax einer Sprache wirksam. Für viele Zwecke genügt ihre Spitze, die Hierarchie der adverbalen Funktionen. Für andere Zwecke benötigt man eine umfänglichere Fassung, die folgende Form hat:
Subjekt ~ Absolutiv | X | ||||||||
dir. Objekt ~ Ergativ | |||||||||
fundamentale
Funktion | indir. Objekt | ||||||||
unmittelbares Komplement | adpositionales Komplement | ||||||||
Komplement | Adjunkt | ||||||||
adverbale Funktion | adnominale Funktion | ||||||||
Dependenzfunktion | Secundum comparationis | ||||||||
einzelne Konstituente | Konstituente koordinierter Struktur | ||||||||
Funktion in demselben einfachen Satz |
adverbalem Nebensatz | ||||||||
adnominalem Nebensatz |
Mit der Stufe ‘einzelne Konstituente’ enden die auf einfache Weise definierbaren syntaktischen Funktionen. Die niederen syntaktischen Funktionen sind auf komplexe Weise definiert als eine der vorigen Funktionen, welche Teil einer komplexen Konstruktion ist. Die vollständige Hierarchie syntaktischer Funktionen ist z.B. wirksam als ‘noun phrase accessibility hierarchy’ in der Relativsatzbildung.
Bei der Codierung einer Situation werden den semantischen Rollen syntaktische Funktionen dieser Hierarchie zugewiesen. Ein wesentlicher Faktor, welcher hier interferiert, ist die Empathie des Rollenträgers. Viele Sprachen tendieren dazu, NSen eine höhere syntaktische Funktion zuzuweisen, als ihnen nach ihrer semantischen Rolle zukäme, bloß weil sie empathisch sind. Im folgenden werden Deutsch und Yukatekisch miteinander verglichen in bezug auf diese Frage. Dazu werden, in onomasiologischer Perspektive, eine Reihe von semantischen Konstellationen definiert, die in den beiden Sprachen strukturell umgesetzt werden. Diese Konstellationen haben gemeinsam, daß es (mindestens) zwei Partizipanten verschiedenen Empathiegrades in einer Situation gibt, derart daß der empathischere eine relativ periphere semantische Rolle hat und folglich eine niedrigere syntaktische Funktion bekommen müßte, wenn es bloß nach semantischen Rollen ginge.
Die folgende Tabelle behandelt nur eine Teilmenge der syntaktischen Funktionen der obigen Hierarchie, nämlich eben diejenigen, welche in den untersuchten Konstellationen zusammen auftreten. Die logischen Möglichkeiten der Kombination ergeben sich wie folgt: Der empathischere Partizipant kann jede dieser syntaktischen Funktionen einnehmen; und der anempathischere kann sie ebenfalls alle einnehmen außer derjenigen, die gerade der empathischere besetzt (das sind die schwarzen Zellen der folgenden Tabelle). Wird nun dem empathischeren die höhere Funktion zugestanden, so ist die Konstruktion ‘person-foregrounding’; andernfalls ist sie ‘person-backgrounding’.
less empathic participant
more empathic participant | Subjekt | indir. Objekt | anderer verbaler Dependent | Attribut | in eingebet- tetem Satz |
Subjekt | person-foregrounding Konstruktionen | ||||
---|---|---|---|---|---|
indir. Objekt | |||||
anderer verbaler Dependent | |||||
Attribut | |||||
in eingebettetem Satz | person-backgrounding Konstruktionen |
Es folgt nun die Durchsicht der diversen Konstellationen im Yukatekischen und Deutschen.
Die wichtigsten modalen Prädikate1 (oder Operatoren) sind ‘Notwendigkeit’ (Obligativ), ‘Möglichkeit’ (Potential), ‘Wollen’ (Volitiv). Sie unterscheiden sich semantisch in bezug auf die Natur ihrer Argumente:
Die Proposition, der die Modalität zugewiesen wird, soll hier ‘modalisierte Proposition’ genannt werden. Eine Sprache, welche diese semantischen Verhältnisse ohne Interferenz anderer Faktoren in syntaktische Strukturen umsetzt, würde also
Genau das tut z.B. Russisch:
B1. | mne | nado | sdelat' | ego |
mir | nötig | PFV:mach:INF | es | |
“ich muß es machen” |
B2. | a. | mne | možno | sdelat' | ego | ||
mir | möglich | PFV:mach:INF | es | ||||
“ich kann es machen (es ist möglich, daß ich es mache)” |
b. | ja | mogu | sdelat' | ego | |||
ich | kann | PFV:mach:INF | es | ||||
“ich kann es machen (bin dazu fähig)” |
B3. | ja | khoču | sdelat' | ego | ||
ich | will | PFV:mach:INF | es | |||
“ich will es machen” |
Viele andere Sprachen differenzieren ähnlich. Z.B. gibt es für den Obligativ im Französischen und Italienischen die unpersönlichen Verben il faut bzw. bisogna, während die anderen Prädikate im einfachsten Falle persönlich konstruiert werden. Hier ebenso wie in den folgenden Beispielserien werden immer die einfachen Konstruktionen der Sprache betrachtet. Z.B. kann man von dem russischen Volitionsverb durch Reflexivierung auch das unpersönliche Verb khotet'sja “gelüsten” ableiten, das aber strukturell deutlich komplexer ist.
B1 - B3 bieten die yukatekischen Versionen dieser Beispielsätze (die eckigen Klammern in der interlinearen Glosse schließen den Komplementsatz ein).
B1'. | k'abéet | in | bèet-ik |
nötig | [SBJ.1.SG | mach-INKMPL] | |
“ich muß es machen” |
B2'. | k-u | béey-tal | in | bèet-ik |
IMPF-SBJ.3 | möglich-PROZ | [SBJ.1.SG | mach-INKMPL] | |
“Ich kann es machen.” |
B3'. | tàak | in | bèet-ik | |||
gelüstet | [SBJ.1.SG | mach-INKMPL] | ||||
“Ich will es machen.” |
Die yukatekische und die deutsche Konstruktion bringen gleichermaßen in der Struktur das Faktum zum Ausdruck, daß das modale Prädikat das höchste in der semantischen Struktur ist, denn es erscheint in beiden strukturell als Hauptprädikat. Die Beispiele zeigen aber auch einen durchgängigen Unterschied in der yukatekischen und der deutschen Konstruktion: Das Hauptprädikat ist im Yukatekischen ein unpersönliches Verb (bei Potentialität) oder überhaupt kein Verb (und deshalb notwendigerweise unpersönlich), und es nimmt die modalisierte Proposition als Subjektkomplementsatz (der im Yukatekischen keinen Subordinator hat). Im Deutschen ist das Hauptprädikat das Modalverb, und es wird immer persönlich konstruiert. Der größte Teil der modalisierten Proposition erscheint strukturell als Infinitivkomplement. Ihr Subjekt freilich wird zum Subjekt des Modalverbs und somit des Gesamtsatzes promoviert.
Für den hier vorzunehmenden Vergleich geht es um zwei Partizipanten, die modalisierte Proposition und deren zentralen Partizipanten. Die erstere ist natürlich ganz unten auf der Empathiehierarchie, der letztere normalerweise höher und in den Beispielen an der Spitze der Empathiehierarchie. Die beiden Konstruktionen sind nun wie folgt in das obige Schema der ‘person-foregrounding’ und ‘person-backgrounding’ Konstruktionen einzutragen: Der weniger empathische Partizipant ist im Yukatekischen Subjekt der Gesamtkonstruktion (erste Spalte), während der empathischere eine Konstituente im eingebetteten Satz ist (letzte Zeile). Mithin eine person-backgrounding Konstruktion. Im Deutschen dagegen ist der weniger empathische Partizipant ein anderer verbaler Dependent (dritte Spalte), während der empathischere Subjekt der Gesamtkonstruktion ist (erste Zeile). Also eine person-foregrounding Konstruktion.
Deutsch und Yukatekisch verhalten sich hier jeweils konsistent auf entgegengesetzte Weise, indem sie alle drei modalen Prädikate jeweils auf dieselbe syntaktische Weise konstruieren. Sie besetzen damit die Pole eines Kontinuums. Denn viele Sprachen differenzieren hier ähnlich wie Russisch. Die bestehende interlinguale Variation wird durch die Kombination einer Skala mit zwei implikativen Generalisierungen eingefangen:
Obligativ – Potential – Volitiv
Mit Bezug auf diese komposite Generalisierung verhalten sich also Deutsch und Yukatekisch extrem, indem Deutsch bereits am linken Pol der Skala persönlich konstruiert (wo es die wenigsten Sprachen tun), während Yukatekisch bereits am rechten Pol der Skala unpersönlich konstruiert (wo es ebenfalls die wenigsten Sprachen tun). Die beiden Sprachen können also dadurch charakterisiert werden, daß modale Konstruktionen im Deutschen person-foregrounding, im Yukatekischen person-backgrounding sind.
Eine dynamische Situation hat drei konstitutive Phasen: Beginn, Verlauf, Ende. Ein Phasenprädikat ist ein Prädikat (normalerweise ein Verb), das eine Phase einer Situation bezeichnet. In der semantischen Struktur nimmt es also eine Proposition als einziges Argument. B4 und B5 zeigen die Konstruktion zweier Phasenprädikate im Yukatekischen und Deutschen:
B4. | k-u | chúun-ul | in | bèet-ik |
IMPF-SBJ.3 | beginn-INKMPL | [SBJ.1.SG | mach-INKMPL] | |
“ich fange an, es zu machen” |
B5. | k-u | ts'o'k-ol | in | bèet-ik |
IMPF-SBJ.3 | end-INKMPL | [SBJ.1.SG | mach-INKMPL] | |
“ich mache es zu Ende” |
Im Yukatekischen sind es unpersönliche Verben, welche die Proposition als Subjektkomplementsatz nehmen. Im Deutschen sind es persönliche Verben, welche als Subjekt den zentralen Partizipanten der Proposition und deren Rest als Infinitivkomplement nehmen. M.a.W., die beiden Sprachen konstruieren Phasenverben und Modalverben jeweils i.w. gleich.
In diesem Abschnitt geht es nur noch um einfache Situationen mit konkreten Situationskernen. Sie werden gegliedert nach derjenigen semantischen Rolle, deren syntaktische Manifestation untersucht wird.
B6. | tich | in | báat-o' ! | |||
reich | POSS.1.SG | Axt-D2 | ||||
“reich mir die Axt da!” |
Im Deutschen erscheint der Rezipient i.a. als indirektes Objekt des Verbs. Im Yukatekischen dagegen wird er als possessives Attribut eines NSs konstruiert, welches einen weiteren Partizipanten repräsentiert. Die deutsche syntaktische Funktion des Rezipienten in einer solchen Konstruktion ist also auf der dritten, die yukatekische auf der sechsten Stufe der Hierarchie syntaktischer Funktionen. Der empathische Partizipant hat also im Deutschen eine höhere syntaktische Funktion als im Yukatekischen. Insofern ist wieder die deutsche Konstruktion person-foregrounding, die yukatekische person-backgrounding.
B7. | Máantats' | táan | u | t'ab-ik | u | kib | kili'ch | Anton. | |
ständig | PROG | SBJ.3 | anzünd-INKMPL | [POSS.3 | Kerze | Sankt | Antonius ] | ||
“Ständig zündet er dem Hl. Antonius Kerzen an.” (CM 13) |
Im Deutschen erscheint der Benefiziär einer benefaktiven Konstruktion als dativischer Verbdependent, als ein Adjunkt, das nach dem Muster des indirekten Objekts gebildet und deshalb zwischen der dritten und der fünften Stufe der Hierarchie der syntaktischen Funktionen angesiedelt ist. Im Yukatekischen ist es ein possessives Attribut zum direkten Objekt.
B8. | K-u | tix-ik | u | lu'm-il | u | yòok. |
IMPF-SBJ.3 | wisch-INKMPL | POSS.3 | Erde-REL | POSS.3 | Bein | |
“Sie wischt den Schmutz von ihren Füßen.” |
Der Ursprung der Bewegung erscheint im Deutschen als (wohl valenzabhängiger) verbaler Dependent, im Yukatekischen als possessives Attribut des direkten Objekts.
B9. | Toh | in | wóol. | |||
gerade | POSS.1.SG | Gemüt | ||||
“Ich bin froh.” |
B10. | Uts | t-in | t'àan. | |||
gut | LOK-POSS.1.SG | Rede | ||||
“Es gefällt mir.” |
Der Experient kann in allen Sprachen verschiedene syntaktische Funktionen annehmen. B9 und B10 sind jedoch für die Verhältnisse der beiden Sprachen typisch: Im Deutschen ist er Subjekt bzw. indirektes Objekt, im Yukatekischen ist er beide Male possessives Attribut zu einem abstrakten Substantiv, dem die Experienz zugeschrieben wird.
In den Beispielen dieses Abschnitts geht es um die Besitzzuschreibung, wo die Relation zwischen einem Possessor und einem Possessum dem ersteren als Thema zugeschrieben wird.
B11. | a. | yàan | tèen | tàak'in |
EXIST | mir | Geld |
b. | yàan | in | tàak'in | |
EXIST | POSS.1.G | Geld | ||
“ich habe Geld” |
Der Possessor ist in der deutschen Konstruktion Subjekt, in der yukatekischen dagegen entweder indirektes Objekt oder possessives Attribut des Possessums.
In diesem Abschnitt geht es um nicht-possessive Prädikationen, in denen jedoch ein empathischer Partizipant auftritt, der Possessor eines anempathischen Partizipanten ist; genauer: der letztere ist ein Körperteil des ersteren.
B12. | yah | in | nak' |
weh | POSS.1.SG | Bauch | |
“mir tut der Bauch weh” |
B13. | p'o' | a | wich ! |
wasch | POSS.2 | Gesicht | |
“wasch dir das Gesicht !” |
B14. | t-in | hak-ah | u | yèex |
PRÄT-SBJ.1.SG | zieh-KMPL | POSS.3 | Hose | |
“ich zog ihm die Hosen herunter.” |
In allen drei deutschen Beispielen ist der Possessor syntaktisch ein dativischer Verbdependent (possessiver oder sympathetischer Dativ), während er in den yukatekischen stets possessives Attribut (oder Komplement) des Patiens ist. Wenn man die yukatekische Konstruktion (die in diesem Falle auch die englische ist) als fundamental betrachtet, erscheint die deutsche als eine Promotion des Possessors aus einer adnominalen in eine adverbale Funktion.
B15. | t-in | k'op-ah | u | ho'l | le | máak-o' |
PRT-SBJ.1.SG | schlag-KMPL | [ POSS.3 | Kopf | DEF | Person-D2 ] | |
“ich schlug den Mann auf den Kopf” |
Hier ist der Possessor im Deutschen direktes Objekt, im Yukatekischen possessives Komplement zum direkten Objekt, welches von dem Körperteil besetzt ist. Im Vergleich zu der yukatekischen Konstruktion ist in der deutschen das Possessum demoviert.
In allen untersuchten Konstruktionen weist das Yukatekische einem empathischen Partizipanten eine adnominale syntaktische Funktion, das deutsche jedoch eine mehr oder minder hohe adverbale Funktion auf der Hierarchie der syntaktischen Funktionen zu. In mehreren Fällen entspricht die syntaktische Funktion im Yukatekischen somit genauer der semantischen Funktion, während sie im Deutschen höher ist, als nach der semantischen Funktion erwartbar wäre, offensichtlich weil empathische Partizipanten bei der Zuweisung syntaktischer Funktionen bevorzugt behandelt werden. Allerdings gab es auch Fälle – z.B. in B3' und B6 –, wo das Yukatekische sein syntaktisches Prinzip gegen die semantische Struktur durchführt. Insofern kann man im Deutschen von Person-foregrounding, im Yukatekischen geradezu von Person-backgrounding sprechen. Die beiden Sprachen können durch ihr konsistent extremes Verhalten in bezug auf diese Gruppe von Parametern typologisch charakterisiert werden.
Lehmann, Christian & Shin, Yong-Min & Verhoeven, Elisabeth 2000, Person prominence and relation prominence. On the typology of syntactic relations with special reference to Yucatec Maya. München: LINCOM Europa (LINCOM Studies in Theoretical Linguistics, 17).
1 Der Ausdruck ‘Prädikat’ wird hier im Sinne der Prädikatenlogik, also i.S.v. ‘Prädikator’, verstanden. Strukturell kann das ein Verb, ein Adjektiv oder ein Substantiv sein.