Die klassische Begriffstheorie

Spätestens seit Platons Euthyphron ist ein Begriff durch eine Menge von Merkmalen bestimmt, welche aufgefaßt werden kann als Menge von Bedingungen dafür, daß etwas unter den Begriff fällt, und zwar so, daß jede einzelne Bedingung dafür notwendig und die gesamte Menge von Bedingungen hinreichend ist. Z.B.:

'Tisch' hat die Merkmale

ist zu verstehen als eine Äquivalenz der Form:

Etwas ist ein Tisch genau dann, wenn es

wo alle vier Bedingungen konjunktiv miteinander verknüpft sind. Dies bedeutet, daß jeglicher Gegenstand, der eine der Bedingungen nicht erfüllt, kein Tisch ist (z.B. ein Hocker erfüllt jedenfalls die letzte Bedingung nicht), und daß jeglicher Gegenstand, der alle Bedingungen erfüllt, ein Tisch ist (z.B. auch ein Schreibtisch oder ein Blumentopfständer).

Wir nennen die klassische Konzeption eines Begriffs, wonach seine Intension eine Menge von je notwendigen und gemeinsam hinreichenden Bedingungen ist, im folgenden die kategoriale Konzeption. Sie stößt auf mehrere Probleme (s. Laurence & Margolis 1999:27). Eines davon ist, daß man offensichtlich über einen Begriff verfügen kann, ohne über die zugehörigen Fähigkeiten zu verfügen, welche aus der kategorialen Konzeption folgen, d.h. ohne in jedem Fall die Zugehörigkeit entscheiden zu können und ohne über das Wissen zu verfügen, das für den Begriff konstitutiv erscheint. Andererseits haben Menschen die im folgenden zu besprechende Fähigkeit, intersubjektiv typische Exemplare für einen Begriff zu benennen, welche nicht aus der kategorialen Konzeption folgt. Diese ist also, wenn sie denn interdisziplinär anschlußfähig sein will, revisionsbedürftig.

Prototypen

Elemente der Prototypentheorie

Eleanor Rosch (Berkeley) und ihre Mitarbeiter führten zahlreiche Experimente folgender Struktur durch: Die Probanden bekamen eine Menge von Exemplaren einer Kategorie vorgesetzt und wurden gebeten, jedem einen Wert einer Ordinalskala von 1 bis 7 zuzuweisen nach dem Kriterium, ein wie gutes Beispiel für die Kategorie das Exemplar sei. Das folgende Beispiel zeigt, was gemeint ist:

Prototypicality rating of fruits on a scale of 1 - 7 (with 1 being highest) (Rosch 1973, table 3)
fruitrating
apple1,3
plum2,3
pineapple2,3
strawberry2,3
fig4,7
olive6,2

Die Experimente wurden auf zwei logischen Ebenen durchgeführt.

Für eine lange Reihe von Begriffen bzw. Kategorien zeitigten die Experimente folgendes Ergebnis:

  1. Die Versuchspersonen stimmten in einem Maße, welches statistisch über jeden Zweifel erhaben ist, in der Identifikation prototypischer Exemplare überein.
  2. Es gab relativ breite Streuung in der Einordnung nicht-prototypischer Exemplare.

Alle möglichen meßbaren Verhalten korrelieren mit der so hergestellten Ordnung von Unterbegriffen bzw. Exemplaren. Die üblichen psycholinguistischen Experimentanordnungen (Latenzzeit für Reaktionen, Fehlerhäufigkeit, spontane Nennung usw.) konvergieren alle in ihren Ergebnissen. Sprachlich z.B. werden kategorische Urteile der Form 'X ist Y' mit hedges (im Prinzip u.ä.) versehen, wenn für X nicht-prototypische Exemplare eingesetzt werden, während für prototypische Exemplare die hedges lächerlich sind. Z.B. ist von den folgenden beiden Äußerungen die erste unauffällig, die zweite schwer zu interpretieren:

Ein Pinguin ist im Prinzip ein Vogel.
Ein Spatz ist im Prinzip ein Vogel.

Ein Element in der Extension eines Begriffs, welches im beschriebenen Sinne prototypisch ist, heißt fokale Instanz des Begriffs. Es stellt sich heraus, daß für manche Kategorien das am meisten prototypische Exemplar eindeutig bestimmt ist, so daß es eine einzige fokale Instanz gibt. Z.B. ist offenbar der Hammer die fokale Instanz des Begriffs des Werkzeugs. Für andere Kategorien dagegen gibt es mehrere gleichrangige fokale Instanzen.

Aus den Ergebnissen der Untersuchungen kann man schließen:

that we can judge how clear a case something is and deal with categories on the basis of clear cases in the total absence of information about boundaries. (Rosch 1978:36)

Begriffe besetzen einen konzeptuellen Raum und stoßen dort aneinander bzw. gehen ineinander über. Am klarsten läßt sich das an den Farbbegriffen verdeutlichen. Rot geht auf der einen Seite in Gelb, auf der anderen in Blau über. In dem Raum werden bestimmte Positionen ausgezeichnet, die, topologisch betrachtet, einen Bereich um sich herum bilden. Jeder solche Bereich ist ein Begriff. Ein Besetzer einer ausgezeichneten Position ist ein Prototyp. Alles, was einem gegebenen Prototypen näher ist als einem anderen, fällt unter denselben Begriff. Mit zunehmender Entfernung vom Prototypen wird es freilich schwieriger abzuschätzen, unter welchen Begriff ein Exemplar fällt. Die Konsequenz davon sind marginale Fälle, Zweifelsfälle und wechselnde Zuordnungen. Zwischen den Begriffen sind also keine Grenzen gezogen, sondern es bestehen Übergangszonen. Für jeden Begriff ist klar, wo sein Zentrum ist, aber unklar, wo seine Grenzen sind.

Übungsaufgabe: Prototypen für Farben

Grenzen der Prototypentheorie

Ein Prototyp eines Begriffs ist ein Konstrukt, das sämtliche Attribute des Begriffs aufweist. Entsprechend ist eine fokale Instanz vor anderen Exemplaren der Extension eines Begriffs dadurch ausgezeichnet, daß sie mehr Eigenschaften mit anderen Exemplaren derselben Kategorie gemeinsam hat als jedes andere Exemplar. Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie ein prototypischer Begriff zu analysieren und zu repräsentieren ist, legen wir uns Rechenschaft über die Grenzen einer Prototypentheorie von Begriffen ab (vgl. Laurence & Margolis 1999, §3).

Zunächst ist klarzustellen, daß Roschs experimentelle Ergebnisse, so eindeutig sie auch sein mögen, nicht unmittelbar eine Theorie vom Begriff bzw. von dessen mentaler Repräsentation determinieren. Die Ergebnisse sind bloß “Prototypeneffekte”, von denen die Grundlage zu suchen ist. Einige vorgeschlagene Theorien hypostasieren die Effekte zu einer mentalen Begriffsstruktur, nehmen z.B. an, daß es Grade der Zugehörigkeit zu einer Menge gibt (→ fuzzy set theory) oder daß die mentale Repräsentation eines Prototypen i.w. eine Repräsentation von dessen fokaler Instanz ist. Solche Theorien führen in Schwierigkeiten.

Ferner scheint sicher, daß nicht alle Begriffe eine prototypische Struktur haben. Viele Begriffe haben keine Prototypen, oder man kann über sie verfügen, ohne den Prototypen zu kennen. Dazu gehören vor allem zusammengesetzte Begriffe mit heterogener Extension wie 'Gegenstand, der mehr als ein Gramm wiegt', aber auch einfache Begriffe wie 'Glaube, Wunsch'. Andererseits können Prototypen durch akzidentielle Eigenschaften charakterisiert sein. Daher scheint es, daß viele Begriffe Prototypen haben, ohne daß diese jedoch für den Begriff konstitutiv wären. Hieraus ist zu schließen, daß die Prototypentheorie nicht eine Begriffstheorie schlechthin ist. Es ist ohne weiteres denkbar, daß Begriffe sich in der logischen Form ihrer inneren Struktur unterscheiden, daß also einige prototypisch organisiert sind, andere nicht.

Begriffe – genauer: Diskursinstanzen davon – werden syntagmatisch miteinander kombiniert, z.B. zu Gedanken und komplexen Begriffen. Wenn die Semantik dies beschreiben soll, muß die semantische Repräsentation eines Begriffs so beschaffen sein, daß sie mit der semantischen Repräsentation eines anderen Begriffs verbunden werden und so die Repräsentation eines komplexen Begriffs ergeben kann. Dies läuft darauf hinaus, daß die semantische Repräsentation von Begriffen eine im weitesten Sinne sprachliche Form hat. Wissenschaftler - Logiker, Linguisten, Semiotiker - nehmen meist an, daß die semantische Repräsentation eines Satzes in einem Kalkül, z.B. im Prädikatenkalkül, abgefaßt ist, und daß folglich auch die Intension des einzelnen Begriffs so repräsentiert ist.

Die Eigenschaft von Begriffen, mit anderen Begriffen nach Regeln kombiniert werden zu können, so daß man neue Begriffe und letztlich Gedanken bilden kann, nennt man die Kompositionalität von Begriffen.1 Kompositionalität ist für das Denken fundamental, denn ohne sie wäre keine kognitive Produktivität möglich. Man muß daher von jeder Begriffstheorie fordern, daß sie die Kompositionalität von Begriffen miterfaßt.

In einer naiven Version der Prototypentheorie ist es nicht klar, wie Kompositionalität von prototypischen Begriffen funktionieren soll. Z.B. ist ein prototypischer pet fish so etwas wie ein Goldfisch. Gegeben nun die Bestandteile, nämlich einen prototypischen fish - was am ehesten eine Forelle ist - und einen prototypischen pet - was so etwas wie ein Pudel ist; wie kommt durch Kombination daraus der prototypische pet fish zustande?

Prototypen als strukturierte Menge von Merkmalen

Manche Leute stellen sich prototypische Begriffe so vor, als hätten sie keine innere Struktur, als gäbe es bloß eine fokale Instanz, die den Begriff holistisch repräsentiert. Wenn das so wäre, wäre in der Tat Kompositionalität unmöglich. Man muß jedoch den Prototypen von der fokalen Instanz unterscheiden. Der prototypische Begriff reduziert sich nicht auf die fokale Instanz. Wesentlich an ihm ist der Prototyp, und das ist eine Menge von Bedingungen genau wie beim kategorialen Begriff.

Wie läßt sich nun diese innere Struktur von Begriffen präzise beschreiben? Im Falle der Farben liegen kontinuierliche Parameter wie Wellenlänge, Sättigung und Helligkeit zugrunde. Bei anderen Begriffen haben die konstitutiven Merkmale durchaus diskreten Charakter. Z.B. läßt sich die Menge der Merkmale, die den Begriff ‘Bankett’ ausmachen, etwa wie folgt angeben:

‘Bankett’ als prototypischer Begriff
1es gibt etwas zu essen
2es gibt etwas zu trinken
3es ist eine offizielle Veranstaltung
4es sind viele Leute da
5die Veranstaltung hat gehobenes Niveau
6die Veranstaltung hat einen besonderen Anlaß
7es werden Reden gehalten
8man sitzt an langen Tischen

Testsätze:

Ich war gestern auf einem Bankett,

1wo es ausschließlich zu trinken und keinen Bissen zu essen gab.
2wo es keinen Tropfen zu trinken gab.
3bei meiner Oma in Bischleben.
4wo sonst nur noch der Bundeskanzler und sein Sekretär waren.
5wo Krethi und Plethi sich die Klinke in die Hand gaben.
6das der Gastgeber alle zwei Wochen gibt.
7wo außer Essen und Trinken nichts lief.
8wo die Leute an Zweiertischen im Raum verteilt waren.

Beim prototypischen Bankett sind alle Bedingungen erfüllt. Jedoch können auch Veranstaltungen, die nicht alle Bedingungen erfüllen, Bankett genannt werden. Insbesondere die letzten der aufgezählten Merkmale sind nicht notwendig, sondern lediglich typisch. Wenn jedoch zu viele der Bedingungen nicht erfüllt sind, oder wenn zentrale Bedingungen wie die ersten nicht erfüllt sind, dann würde man die Veranstaltung nicht mehr Bankett nennen (sondern z.B. Party, Gelage oder Diner).

Das besagt, daß ein prototypischer Begriff wie folgt strukturiert ist:

Wir sehen als letztes Beispiel für eine solche Auffassung eine prototypische Konzeption von Wortarten, hier des deutschen Substantivs:

Merkmale des deutschen Substantivs
Beispiel
Merkmal
BallBlumeSandErnaSoftwareVerehrungParoli
bezeichnet etwas Konkretes ++++?--
bezeichnet eine Klasse ++--+--
dekliniert nach Numerus ++-?---
dekliniert nach Kasus +-++---
ist mit indefinitem Artikel kombinierbar ++??+--
ist mit definitem Artikel kombinierbar +++?++-
kann Kern des Satzsubjekts sein ++++++-

Das Beispiel ist nicht ganz ausgeführt; insbesondere sieht man nicht, aufgrund wovon das Wort Paroli als Substantiv kategorisiert werden kann. Das Beispiel genügt aber, um zu zeigen, daß es einen Prototypen des deutschen Substantivs gibt, an welchem man z.B. lernen kann, was ein Substantiv ist. Ferner weisen Abstrakta wie Verehrung kaum substantivische Eigenschaften auf, so daß sie bereits in der Übergangszone zu anderen Wortarten, z.B. infiniten Verben, liegen. Eine solche Konzeption von grammatischen Kategorien bewährt sich vor allem, wenn sie übereinzelsprachlich anwendbar sein sollen, wenn man also auch in Sprachen von ganz anderer Struktur von Substantiven sprechen will.

Literatur

Lakoff, George 1987, Women, fire, and dangerous things. What categories reveal about the mind. Chicago: Chicago University Press.

Laurence, Stephen & Margolis, Eric 1999, "Concepts and cognitive science." Margolis, Eric & Laurence, Stephen (eds.), Concepts: Core readings. Cambridge, MA: MIT Press; 3-91.

Rosch, Eleanor 1977, "Human categorization." Warren, Neil (ed.), Advances in cross-cultural psychology. Vol. 1. London etc.: Academic Press; 1-49.

Analyseaufgabe: ‘Lügen’ als prototypischer Begriff


1 Das scheint nicht ganz dasselbe zu sein wie Kompositionalität im linguistischen Sinne. Hier ist die Bedeutung einer komplexen sprachlichen Einheit kompositionell gdw sie nach Regeln aus den Bedeutungen der Bestandteile abgeleitet werden kann.