In jeder natürlichen Sprache kann man alles sagen, was sich überhaupt sagen läßt. Diese Eigenschaft jeder Sprache heißt ihre Effabilität. Wesentliche Unterschiede zwischen Sprachen in diesem Punkte beziehen sich darauf, auf welche Weise sie bestimmte Begriffe und Operationen versprachlicht haben. Die wichtigsten Begriffe in diesem Bereich werden in dem Abschnitt über die Verfahren zum Ausdruck einer semantischen Komponente eingeführt. Dort sind in der Frage, wie eine Sprache einen Begriff bzw. eine Operation kodieren kann, folgende Alternativen zu sehen:
Der erste Fall ist, als die immer zur Verfügung stehende Rückfallposition, für die grammatische und lexikalische Charakterisierung der Sprache ohne Belang. Im zweiten Fall sagt man, daß der Begriff bzw. die Operation in der Sprache lexikalisiert ist. Im dritten Fall sagt man, sie seien grammatikalisiert. Die Pfeile in dem Schaubild des o.a. Abschnitts deuten diese beiden Prozesse an: der linke steht für Lexikalisierung, der rechte für Grammatikalisierung.
Die Begriffe der Lexikalisierung und Grammatikalisierung können auf diese Weise zur typologischen Charakterisierung von Sprachen eingesetzt werden. Beides sind jedoch, wie bereits die o.a. Darstellung zeigt, dynamische Konzepte. Die Lexikalisierung ist ein Übergang ins Lexikon, ebenso wie die Grammatikalisierung ein Übergang in die Grammatik ist. Dies wird im folgenden näher erläutert.
Die Lexikalisierung eines sprachlichen Ausdrucks ist seine Inventarisierung als Lexikoneintrag.3 Er wird dann von den Sprechern nicht mehr analysiert oder muß es jedenfalls nicht mehr werden, da auf ihn als Ganzes zugegriffen wird; vgl. den Abschnitt über den Aufbau des Sprachsystems. Da er nicht mehr analysiert wird, wird seine ehemalige interne Struktur nicht mehr gebraucht; sie kann zerstört werden. Bzw. umgekehrt: wenn man die interne Struktur eines Ausdrucks zerstört, ihn aber weiter verwenden will, muß man ihn inventarisieren, da seine Bedeutung nicht mehr erschlossen werden kann.
B1. | a. | *hiu tagu "an diesem Tage" > ahd. hiutu > nhd. heute |
b. | *hiu jâru "in diesem Jahr" > ahd. hiuro > nhd. heuer |
B1.a zeigt, daß das Wort heute durch Lexikalisierung aus einem ehemals nach Regeln der Syntax gebildeten NS hervorgegangen ist, und dito in B1.b das Wort heuer.1
Die Beispiele in B1 waren Zusammenrückungen ehemaliger Syntagmen. Lexikalisierung spielt besonders in der Wortbildung eine erhebliche Rolle. Viele Neologismen sind bereits bei ihrer Bildung nicht restlos nach Regeln des Systems verständlich, so daß insoweit ein holistischer Zugriff auf sie genommen wird. Jedenfalls aber wird auf Wortbildungen, die in den Bestand übergehen, auf die Dauer ein holistischer Zugriff genommen, so daß ihre innere Struktur keine Rolle mehr spielt. Die Zuordnung von Significans und Significatum wird dann unregelmäßig, sei es, daß sich das erstere durch Lautwandel, sei es, daß sich das letztere durch Bedeutungswandel verändert.
B2. | a. | ahd. heri-zogo “Heer-Führer” > Herzog |
b. | mhd. junc-hērre “Jung-Herr” > Junker | |
c. | ae. hloaf-weard “Brot-Wärter” > lord |
B2 bringt einige Schulbeispiele von Lexikalisierung. Sie zeigen, wie die innere morphologische Struktur des Significans kaputtgeht und gleichzeitig die Bedeutung sich in einer Weise ändert, die auf der Basis der ursprünglichen Bildung ohnehin nicht mehr vorhersagbar gewesen wäre.
Die Beispiele in B2 sind ehemalige Komposita. Dasselbe Schicksal erleiden auch Derivata:
B3. | Ankunft, Sicht, Kunst, Gunst |
Die in B3 aufgezählten Wörter werden heute kaum noch als Derivata erkannt. Sie sind nach ehemals produktiven Regeln als Abstrakta mit einem -t-Suffix von den Verben ankommen, sehen, können, gönnen abgeleitet worden. Das Suffix ist für das feminine Genus verantwortlich, aber als solches kaum noch erkennbar, denn heute kann man Verbalabstrakta so nicht mehr bilden. Diese Wörter sind also allesamt lexikalisiert. Vgl. den Abschnitt über Regelmäßigkeit und Produktivität in der Wortbildung zu einem ähnlichen Beispiel.
Die Zerstörung der regelmäßigen Significans-Significatum-Beziehung (der “relativen Motivation” i.S.v. de Saussure 1916) ist das definierende Kriterium der Lexikalisierung, welches sie von Grammatikalisierung unterscheidet. Die Beispiele zeigen darüber hinaus, daß Lexikalisierung typischerweise ein Reduktionsprozeß ist, in welchem das Significans vereinfacht wird. Dies hat sie mit Grammatikalisierung gemeinsam.
Ein Konzept oder eine Operation, die der Bildung von Ausdrücken nach Regeln, also dem analytischen Zugriff dienstbar gemacht werden, werden grammatikalisiert. Wir hatten an verschiedenen Stellen, z.B. in Kap. 2.3.1, gesehen, daß Sprachzeichen mit verschiedenen Freiheitsgraden selektiert und kombiniert werden. Die Einschränkung dieser Freiheit bedeutet die Automatisierung der Selektion und Kombination, ihre Verankerung im Sprachsystem. Grammatikalisierung ist die Überführung eines Zeichens ins grammatische System, also seine Unterwerfung unter grammatische Regeln. Nehmen wir als ein erstes Beispiel den progressiven Aspekt. Für englische Ausdrücke des Typs I am reading the book gibt es im Hochdeutschen keine Entsprechung. Man greift zu solchen Umschreibungen wie ich lese das Buch gerade, man gibt also eine grammatische Kategorie des Englischen im Deutschen mit lexikalisch-syntaktischen Mitteln wieder. In einigen deutschen Dialekten und Soziolekten kann man aber sagen ich bin am Lesen und auch zunehmend ich bin das Buch am lesen. Nach dem Vorbild von (hochdeutschen) Konstruktionen wie einerseits ich bin an der Arbeit und andererseits ich bin dabei, zu lesen oder ich bin beim Lesen wird hier die Konstruktion
Kopula + am + Vinf
grammatikalisiert, also Bestandteil der Grammatik. Das gilt gleichzeitig für die von ihr erfüllte Funktion, nämlich den progressiven Aspekt. Die ganze Konstruktion fängt an mit einem lexikalisch-syntaktischen Ausdruck und endet als periphrastische Konstruktion. Die Kopula wird dabei zum Hilfsverb.
Für die Grammatikalisierung sind eine Reihe von Phänomenen charakteristisch, von denen die wichtigsten hier genannt seien (Weiterführendes unter Sprachwandel und unter Sprachtheorie). Im Zuge der Grammatikalisierung verliert ein Zeichen sowohl im Significans als auch im Significatum an Masse. Z.B. ist der indefinite Artikel im Englischen (wie in fast allen Sprachen, die einen haben,) aus dem Zahlwort für 'eins' grammatikalisiert. Das Significans wurde von one zu a(n); im Significatum ging die Festlegung auf genau einen (vs. zwei, drei usw.) verloren; vgl. an Englishman would not do that.
Je mehr ein Zeichen grammatikalisiert ist, desto geringer wird seine paradigmatische Variabilität, d.h. desto mehr wird es obligatorisch. Dies zeigt ebenfalls das letzte Beispiel. Für die Bedeutung würde es ohne weiteres hinreichen zu sagen Englishman would not do that. In einer artikellosen Sprache (z.B. Latein oder Russisch) würde man so sagen, und ebenso auf der Stufe des Englischen vor der Grammatikalisierung von one. Nun aber ist die Setzung des Artikels in diesem und anderen Kontexten obligatorisch.2
Wenn ein Zeichen grammatikalisiert wird, wird es Bestandteil des grammatischen Systems, und das heißt auch, Bestandteil eines grammatischen Paradigmas. So bildet engl. a ein Paradigma mit the, mit dem das Zahlwort noch gar nichts zu tun hatte. In dem Maße, in dem dt. brauchen vom Vollverb (B2.a) zum Modalverb (B2.b) grammatikalisiert wird (mehr dazu anderswo), fügt es sich auch in das Paradigma der Modalverben ein. Z.B. nimmt es in der 3.Ps.Sg. kein -t und nimmt den folgenden Infinitiv ohne zu, ganz wie die anderen Modalverben, z.B. müssen. Diese Integration eines Zeichens in ein grammatisches Paradigma heißt Paradigmatisierung.
B2. | a. | Das braucht/beabsichtigt er nicht zweimal zu sagen. |
b. | Das brauch/muß er nicht zweimal sagen. |
Ein grammatikalisiertes Zeichen verliert auch seine morphologische Selbständigkeit und wird zum Affix. Der Kontakt zu seinem lexikalischen Träger wird immer enger; die Fügungsenge nimmt zu. Das letzte Beispiel zeigte schon, daß der Kontakt eines Modalverbs zum folgenden Infinitiv (B2.b) enger ist als bei einem Vollverb, an das der Infinitiv mit zu angeschlossen wird (B2.a). Zum Flexionsaffix geworden ist z.B. die germanische Entsprechung von tun, nämlich zum Präteritalsuffix in der schwachen Konjugation: er machte ist grammatikalisiert aus dem urgermanischen Äquivalent von er machen tat.
Schließlich geht durch Grammatikalisierung die syntagmatische Variabilität eines Zeichens zurück. Im Urgermanischen waren die Stellungen ‘machen tat’ und ‘tat machen’ beide möglich; das Affix -t in machte jedoch kann nur ein Suffix sein. Skopusstellung geht in Schablonenstellung über, d.h. die Stellung verliert ihre Funktion und wird zum schieren Strukturfaktum.
Durch Grammatikalisierung werden ständig grammatische Mittel zur Erfüllung von sprachlichen Funktionen geschaffen. Manchmal kommen dadurch neue Funktionen in eine Grammatik, die vorher nicht darin waren. Z.B. hatte das Germanische keine Artikel und folglich die Funktion der Definitheit vs. Indefinitheit nicht in der Grammatik; die heutigen germanischen Sprachen haben beides erworben. Manchmal werden auch bloß alte Funktionen mit neuen Ausdrucksmitteln erfüllt. Z.B. wird im Deutschen der Konjunktiv Imperfekt von werden zum Hilfsverb grammatikalisiert, das den Konjunktiv Imperfekt des folgenden infinitivischen Vollverbs ausdrückt; er würde laufen ersetzt er liefe. Etwas funktionell Neuartiges kommt damit aber nicht in die Sprache, denn die periphrastische Bildung ist mit der älteren synthetischen weitgehend synonym.
Die gegebenen Beispiele zeigen, daß auch Grammatikalisierung ein Reduktionsprozeß ist: die Significantia der grammatikalisierten Zeichen werden kleiner, und auf der Seite des Significatums geht damit eine Desemantisierung einher. Wenn z.B. urgerm. ‘tat’ zum Präteritalsuffix -t wird, bleibt lediglich die (in ersterem ja enthaltene) Vergangenheitsbedeutung übrig. Die Bedeutung einer Aktion dagegen geht verloren, denn auch inaktive Verben wie blühen bilden das Präteritum auf -t.
Das Beispiel der Grammatikalisierung von brauchen ist lehrreich. Erstens zeigt es, daß eine Ausdrucksvariante, zu der einer normativen Grammatik nicht mehr als die Verdammung einfällt, tatsächlich allgemeinen Prinzipien der grammatischen Entwicklung folgt und insoweit gut motiviert ist. Und da die Varianten von B2 im Deutschen koexistieren, zeigt das Beispiel zweitens, daß Grammatikalisierung einen synchronen und einen diachronen Aspekt hat, so wie synchrone Variation stets das Gegenstück zu diachronem Wandel ist. Daraus folgt, daß man funktionell äquivalente bzw. ähnliche Ausdrucksverfahren einer Sprache nach dem Grade ihrer Grammatikalisierung ordnen kann. Hierzu vergleiche man B3.
B3. | a. | Erna kaufte ein Grundstück zugunsten von Erwin. |
b. | Erna kaufte ein Grundstück für Erwin. | |
c. | Erna kaufte Erwin ein Grundstück. |
Die benefaktive Beziehung zwischen Erwin und Ernas Aktion wird in B3 durch drei verschiedene Kasusrelatoren ausgedrückt. Die komplexe Präposition in B3.a ist am wenigsten stark grammatikalisiert, der benefaktive Dativ in B3.c am stärksten, und die einfache Präposition für liegt in der Mitte. Hier wird natürlich nicht behauptet, daß etwa der benefaktive Dativ per Grammatikalisierung aus der Präposition für entstanden wäre. Es wird lediglich gesagt, daß diese drei Ausdrucksweisen verschieden stark grammatikalisiert sind.
Grammatikalisierung spielt in vielen Bereichen des Sprachsystems eine Rolle. Z.B. gehört dazu auch der in Kap. 2.2 gesehene diachrone Übergang eines Determinatums eines Kompositums in einen Derivationsoperator. Wenn wir diese Fälle mit denen von B2 vergleichen, sehen wir, daß für ein Kompositum die Alternative besteht, es entweder zur Gänze zu lexikalisieren oder sein Determinatum und somit seine Bildung zu grammatikalisieren.
1. | Grammatische vs. lexikalische Zeichen |
2. | Primäre und sekundäre Präpositionen |
3. | Grammatikalisierung von Hilfsverben |
1 Der Asterisk vor X bedeutet in diesem Zusammenhang “X ist rekonstruiert”. Die Syntagmen stehen im Dativ, in welchem der indogermanische Lokativ aufgegangen ist.
Thus the true difference between languages is not in what may or may not be expressed but in what must or must not be conveyed by the speakers. (Jakobson 1959:142)
Effabilität von Konzepten und Operationen ist allen Sprachen gemeinsam; aber was in einer Sprache grammatikalisiert ist (und insoweit ausgedrückt werden muß), braucht in einer anderen Sprache nicht grammatikalisiert zu sein.
3 Es ist daran zu erinnern, daß mit Lexikon nicht “Wörterbuch” gemeint ist, sondern eine Abteilung des Sprachsystems, die eine psychische Entsprechung im mentalen Lexikon hat.