Auf einer vorangehenden Seite dieser Sektion sind einige im heutigen Deutschen vorgehenden Wandel aufgeführt. An anderen Stellen werden sie detailliert analysiert. Hier kommt es nur darauf an, sich ihrer Gegenwart bewußt zu werden. Die Sprache wandelt sich unter unseren Augen und Ohren, und wir nehmen aktiv oder wenigstens passiv daran teil. Sprachwandel wird zweifellos vielen nicht bewußt; aber es ist nicht so, daß er nicht bewußt werden könnte.1 Im Gegenteil, in vielen Fällen entscheiden sich Sprechergruppen bewußt für oder gegen einen Wandel, versuchen ihn aktiv durchzusetzen oder widersetzen sich ihm. Jedermann geläufig sind die Diskussionen über die Zunahme von Anglizismen, der Widerstand gegen normwidrige Veränderungen vom Typ “Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen überhaupt nicht zu gebrauchen.” oder “Rettet dem Dativ!”. Andere Beispiele wie z.B. die von – her-Konstruktion zeigen, wie stark der Sprachgebrauch auch Moden unterworfen ist.

Für die Frage, in welchem Maße Sprachwandel bewußt werden kann, sind folgende Unterscheidungen relevant, die sich auf Bewußtseinsebenen beziehen lassen:

  1. Die sprachliche Ebene: Das betrifft in erster Linie das Verhältnis von Phonologie (niedrigere Ebene) zu den signifikativen Ebenen der Grammatik und des Lexikons (höhere Ebene). Sekundär betrifft es innerhalb der signifikativen Systeme die Ebenen niedrigerer und höherer Komplexität. Generell gilt, daß sprachliche Operationen auf den höheren Ebenen eher bewußt, auf den niedrigeren Ebenen eher unbewußt verlaufen. Welche Sprachlaute man artikuliert oder zu hören bekommt, dringt den allerwenigsten je zu Bewußtsein. Aber das Unwort des Jahres ist vielen im Ohr.
  2. Die kognitive Ebene: Auf der (niedrigeren) prozeduralen Ebene führt man lediglich sprachliche Operationen “online” aus. Auf der (höheren) reflexiven Ebene dagegen reflektiert man auf diese Operationen; und dies kann man “online” oder “offline” (losgelöst vom Vollzug) tun. Eine höhere Reflexionsebene bringt einen höheren Bewußtseinsgrad mit sich. So kann es z.B. durchaus sein, daß ich auf prozeduraler Ebene gelegentlich Anglizismen verwende, auf reflexiver Ebene jedoch gegen die Anglizismen wettere.
  3. Die Ebene der analytischen Spezifizität: Auf der (niedrigeren) ganzheitlichen Ebene ahnt man dumpf, daß die Jugend anders redet und sich Verschiedenes in der Sprache geändert hat, ohne diesen Eindruck notwendigerweise mit Beispielen substantiieren zu können. Auf der (höheren) analytischen Ebene dagegen kann man die sprachlichen Einheiten und Eigenschaften, welche sich geändert haben, im einzelnen benennen. So kann es z.B. sein, daß jemand gegen die Flut von Anglizismen wettert, ohne einen einzigen davon angeben zu können.

Wenn man diese Unterscheidungen anwendet, läßt sich sagen,

  1. Je höher die sprachliche Ebene eines Wandels, desto mehr Sprachteilhaber werden sich seiner bewußt.
  2. Je höher die kognitive Ebene, desto weniger Sprachteilhaber erlangen das auf ihr angesiedelte Bewußtsein.
  3. Je höher die Ebene der analytischen Spezifizität, desto weniger Sprachteilhaber erlangen das auf ihr angesiedelte Bewußtsein.

Hieraus ergibt sich jedenfalls, daß die Frage, ob Sprachwandel bewußt stattfindet, nicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist.


1 Bloomfield (1933:347) steht nicht allein mit seiner Meinung: "The process of linguistic change has never been directly observed; ... such observation, with our present facilities, is inconceivable". Sie ist nichtsdestoweniger Unsinn.