Die sprachliche Kompetenz einer Person wird gelegentlich auf die Beherrschung eines Sprachsystems reduziert. Von diesem wird im folgenden auch die Rede sein; aber Sprachbeherrschung umfaßt viel mehr. Die wesentlichen Dimensionen erschließen sich in folgenden Unterscheidungen:
Ebenen der Allgemeinheit
Die erste bei der Sprachbeherrschung zu treffende Unterscheidung betrifft zwei Ebenen der Allgemeinheit:
- Die semiotische Kompetenz ist die Fähigkeit, ein Zeichensystem für kognitive und kommunikative Ziele zu erlernen und zu gebrauchen. Das bezieht sich in erster Linie auf natürliche menschliche Sprachen, aber auch auf nicht- und parasprachliche Kommunikation. Dieser Kompetenz liegen zunächst sehr allgemeine menschliche Fähigkeiten zugrunde:
- die anatomische und physiologische Ausstattung des Menschen, die ihn u.a. zum Artikulieren und Dekodieren von Sprachlauten, zum Verarbeiten von sprachlichen Äußerungen im Gedächtnis usw. befähigt
- kognitive und kommunikative Fähigkeiten, die letzlich auf Intelligenz und der Fähigkeit zu sozialen Beziehungen beruhen.
Die semiotische Kompetenz ist einer Person ganz überwiegend angeboren. Das impliziert – ebenso wie bei allen anderen menschlichen Eigenschaften, die in den Genen transportiert werden –, daß es sich einerseits um eine genetisch verankerte Eigenschaft der Spezies Homo sapiens handelt, daß sich aber andererseits die Individuen erheblich in ihrer Ausprägung unterscheiden können. Z.B. haben bekanntlich manche Menschen eine so geringe kommunikative Begabung, daß auch jegliche erzieherische Anstrengung in diesem Punkt weitgehend vergebens ist. - Die sprachspezifische Kompetenz ist die Beherrschung des Systems einer bestimmten Sprache. Das Sprachsystem umfaßt seinerseits die signifikativen und distinktiven Subsysteme mit ihren diversen Komponenten. Es ist also in sich heterogen und kompliziert daher die Sprachbeherrschung um weitere Dimensionen.
Die sprachspezifische Kompetenz setzt die semiotische Kompetenz voraus und ist vollständig durch Lernen erworben.
Die Gebärdensprachen geben übrigens kriteriale Evidenz für diese Unterscheidung ab: Die Taubstummen sind nicht ohne weiteres in der Lage, eine Lautsprache zu erlernen, also eine sprachspezifische Kompetenz von der Art zu erwerben, wie Gesunde sie erwerben. Sie haben aber dieselbe semiotische Kompetenz wie Gesunde, die sie im Prinzip – d.h. abgesehen von ihrer Taubheit – in die Lage versetzt, eine sprachspezifische Kompetenz zu erwerben. Dies ist dann die Kompetenz in einer Gebärdensprache.
Ein Problem, das erhebliches theoretisches Interesse auf sich gezogen hat, ist das folgende: Die semiotische Kompetenz ist die Voraussetzung dafür, eine beliebige menschliche Sprache zu lernen und zu verwenden. Sie kann also einerseits keine Spezifika umfassen, die auf bestimmte Sprachen beschränkt sind; aber andererseits muß sie doch so weit ausgestaltet sein, daß das einzelne Sprachsystem nahtlos daran anschließen und daß das Sprachenlernen unmittelbar darauf aufsetzen kann. Schließlich ist letzteres etwas, was den Menschen vom Tier unterscheidet und was dem Menschen, mindestens im Kindesalter, sogar leicht fällt. Daher stellt sich die Frage, ob die sprachlichen Universalien in den menschlichen Genen kodiert sind. Dies ist eine empirische Frage, die letztlich die Humangenetik beantworten wird. Solange die Antwort aussteht, ist folgende Unterscheidung plausibel:
- Es gibt sprachliche Universalien, welche sich aus irgendwelchen anderen Gegebenheiten – logisch, physikalisch, biologisch, funktional usw. – notwendig ableiten. Das betrifft z.B. die Universalien, welche über Wortstellungsmustern walten; sie sind, wie gesehen, funktional erklärbar. Für diese ist es nicht nötig anzunehmen, sie seien (über die soeben herangezogene biologische Ausstattung hinaus) angeboren; denn sie würden sowieso gelten, auch wenn sie nicht angeboren sind.
- Daneben können alle menschlichen Sprachen Eigenschaften gemeinsam haben, die nicht auf solche Weise ableitbar sind, sondern gleichsam arbiträre Beschränkungen der menschlichen Sprachfähigkeit gegenüber denkbaren Sprachfähigkeiten sind. Solche Beschränkungen wären in der besonderen Evolution entstanden, die Homo sapiens genommen hat, und wären daher in den Genen verankert.
Gelegentlich wird die zweite Position postuliert und als Theorie einer ‘universalen Grammatik’ ausgestaltet. Die Position ist auch als Nativismus (Angeborenheitsdoktrin) bekannt. Es gibt allerdings weder Kandidaten für angeborene Universalien, die diesen Status über mehr als zwanzig Jahre Wissenschaftsgeschichte gehabt hätten, noch sind überhaupt Methoden bekannt, wie man sie identifizieren könnte.
Kognitive Ebenen
Die zweite hier zu machende Unterscheidung betrifft zwei kognitive Ebenen:
- Prozedurale Kompetenz ist ein Bündel aus Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem bestimmten Bereich. Prozedurale sprachliche Kompetenz ist daher die Fähigkeit, in einer Sprache zu denken und zu kommunizieren. Sie läßt sich aufgliedern in eine Menge von Fertigkeiten (engl. skills), die sich aus der Kreuzklassifikation der binären Unterscheidungen zwischen produktiver und rezeptiver Richtung und mündlichem vs. schriftlichem Medium ergibt. Ein wichtiger Aspekt dieser Kompetenz ist die Flüssigkeit und Korrektheit, mit der man diese Fertigkeiten ausübt. Es ist diese Fähigkeit, die üblicherweise in Sprachstandstests (engl. proficiency tests) überprüft wird.
- Reflexive Kompetenz ist die Fähigkeit, die prozedurale Kompetenz in einem bestimmten Bereich zu kontrollieren. Sie setzt Reflexion und Wissen über diese Fähigkeit voraus. Reflexive sprachliche Kompetenz ist daher die Fähigkeit, auf die Sprachtätigkeit zu reflektieren und z.B. jemandem anderen zu erklären, wie sie funktioniert. Reflexive Kompetenz ist rekursiv; eine höhere Stufe reflexiver sprachlicher Kompetenz ist linguistische Kompetenz. Es ist diese Fähigkeit, die z.B. in einem Grammatiktest überprüft wird.
Diese beiden Ebenen der Kompetenz sind weitgehend unabhängig voneinander. Es gibt einerseits Menschen, die sich sprachlich verständigen können, jedoch nicht in der Lage sind, hierüber einen vernünftigen Satz von sich zu geben (und etwa jemandem ihre Sprache beizubringen). Und es gibt andererseits Menschen (typischerweise Linguisten), die über eine bestimmte Sprache (etwa Latein) ein hohes Maß an reflexiver Kompetenz haben, ohne in der Sprache kommunizieren zu können. Für Zwecke des täglichen Lebens freilich ist die prozedurale Kompetenz fundamental. Aber in einem humanen Sinne vollkommen beherrscht man nur das, wofür man auch Verantwortung übernehmen kann; und die setzt reflexive Kontrolle voraus.
Für die beiden kognitiven Ebenen der Kompetenz gibt es auch zwei Arten von Gedächtnis:
- Das prozedurale Gedächtnis speichert Routinen von Handlungen und Vorgängen, die wir beherrschen bzw. die automatisch in uns ablaufen. Z.B. die Fähigkeit zum Radfahren ist im prozeduralen Gedächtnis abgelegt. Die Inhalte sind der Introspektion nicht zugänglich.
Das prozedurale Gedächtnis ist im evolutiv ältesten Teil des Gehirns, nämlich im Hirnstamm und im Kleinhirn, lokalisiert. - Das deklarative Gedächtnis speichert “propositionales” Wissen. Z.B. die Proposition, daß man beim Fahrradfahren winzige Schlangenlinien fährt, um die Balance zu halten, ist im deklarativen Gedächtnis abgelegt. Die Inhalte sind der Introspektion zugänglich, man kann sie also versprachlichen und jemand anders übermitteln.
Das deklarative Gedächtnis ist in einem evolutiv jüngeren Teil des Gehirns, nämlich in der Hirnrinde und im Zwischenhirn, lokalisiert.
Die beiden Arten von Gedächtnis haben unterschiedliches stammesgeschichtliches Alter; das deklarative Gedächtnis ist eine Errungenschaft von Homo sapiens. Dadurch erklärt sich auch ihre Ansiedlung in verschiedenen Regionen des Gehirns.
Aktive und passive Sprachbeherrschung
Die letzte hier zu besprechende Unterteilung betrifft die Weise bzw. Richtung des Verfügens über die Sprachfähigkeit, nämlich den Gegensatz zwischen Redeverstehen und Redeerzeugung:
- Passive Sprachkompetenz oder rezeptive Kompetenz ist die Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu verstehen.
- Aktive Sprachkompetenz oder produktive Kompetenz ist die Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu erzeugen und zu vermitteln.
Dazu kommt die mediative Kompetenz, d.i. die Fähigkeit, Nachrichten von einer Sprache in eine andere zu konvertieren. Sie ist eine komplexe Kombination der beiden vorgenannten Richtungen der Sprachkompetenz, nämlich die Kombination der passiven Kompetenz in einer Sprache mit der aktiven Kompetenz in einer anderen Sprache.
Diese Einteilung läßt sich wieder mit den verschiedenen Verständigungsmedien kreuzklassifizieren. Dann ergeben sich folgende Modi der sprachlichen Kommunikation:
Medium
Richtung ╲ | mündlich | schriftlich |
---|---|---|
Erzeugung | Sprechen | Schreiben |
Verstehen | Hörverstehen | Leseverstehen |
Mediation | Dolmetschen | Übersetzen |
Nach diesen Modi untergliedert sich die Sprachkompetenz in modale Fertigkeiten (engl. skills), die in vielen Sprachstandstests prominent figurieren.
Das Verhältnis zwischen aktiver und passiver Sprachbeherrschung ist in mancherlei Hinsicht asymmetrisch:
- Die passive Beherrschung einer jeden Sprache inkludiert die aktive vollständig als echte Teilmenge. Das gilt sowohl für die Muttersprache als auch für Fremdsprachen. Und es betrifft alle Bereiche des Sprachsystems: der passive Wortschatz ist größer als der aktive, wir diskriminieren – insbesondere in einer Fremdsprache – mehr Sprachlaute auditiv, als wir artikulatorisch differenzieren können. Wir verstehen verschiedene Dialekte unserer Sprache, die wir aber nicht sprechen. Viele Menschen können halbwegs lesen, aber nicht schreiben.
- Im Spracherwerb geht die passive der aktiven Sprachbeherrschung zeitlich voran. Das ist notwendigerweise so, da die Inhalte und Verfahren nur durch Wahrnehmung in den Kopf gelangen. Im Erstspracherwerb beträgt die Phasenverschiebung zwischen Hören und Sprechen immerhin durchschnittlich ein Jahr, und wenn man – wie man wohl muß – die Vorgeburtszeit dazurechnet, sogar entsprechend mehr.
- Auch in der Phylogenese sind die der Sprachfähigkeit zugrundeliegenden sensorischen und analytischen Fähigkeiten eher ausgebildet als die zugehörigen motorischen und synthetischen Fähigkeiten. Z.B. verstehen alle höheren Tiere indexikalische Zeichen (z.B. den Schatten eines Raubvogels auf dem Boden) zu deuten. Die Fähigkeit, solche Zeichen – und erst recht höherstufige – selbst absichtlich zu erzeugen, ist dagegen begrenzt und tritt in vollem Umfang erst bei den Primaten auf.
Die Asymmetrie zwischen aktiver und passiver Sprachbeherrschung spielt vor allem bei Fremdsprachen eine große Rolle. Für viele Zwecke genügt es, eine Fremdsprache passiv zu beherrschen. Einer davon ist das Studium oder allgemeiner die Informationsgewinnung. Einen besonders klaren Fall stellen in diesem Zusammenhang antike Sprachen wie Latein oder Sumerisch dar, die viele Philologen und Historiker lesen können, während ihnen alle anderen Modi abgehen. Ein anderer derartiger Zweck ist die internationale Korrespondenz: Im akademischen Bereich ist weithin die “erasmische Kommunikation” (nach Erasmus von Rotterdam [1467-1536]) üblich, wo jeder Korrespondent zur Erzeugung seine Muttersprache benutzt.
Literatur
Lehmann, Christian 2007, "Linguistic competence: Theory and empiry." Folia Linguistica 41:223-278.