Die sprachliche Kompetenz einer Person wird gelegentlich auf die Beherrschung eines Sprachsystems reduziert. Von diesem wird im folgenden auch die Rede sein; aber Sprachbeherrschung umfaßt viel mehr. Die wesentlichen Dimensionen erschließen sich in folgenden Unterscheidungen:

Ebenen der Allgemeinheit

Die erste bei der Sprachbeherrschung zu treffende Unterscheidung betrifft zwei Ebenen der Allgemeinheit:

Die Gebärdensprachen geben übrigens kriteriale Evidenz für diese Unterscheidung ab: Die Taubstummen sind nicht ohne weiteres in der Lage, eine Lautsprache zu erlernen, also eine sprachspezifische Kompetenz von der Art zu erwerben, wie Gesunde sie erwerben. Sie haben aber dieselbe semiotische Kompetenz wie Gesunde, die sie im Prinzip – d.h. abgesehen von ihrer Taubheit – in die Lage versetzt, eine sprachspezifische Kompetenz zu erwerben. Dies ist dann die Kompetenz in einer Gebärdensprache.

Ein Problem, das erhebliches theoretisches Interesse auf sich gezogen hat, ist das folgende: Die semiotische Kompetenz ist die Voraussetzung dafür, eine beliebige menschliche Sprache zu lernen und zu verwenden. Sie kann also einerseits keine Spezifika umfassen, die auf bestimmte Sprachen beschränkt sind; aber andererseits muß sie doch so weit ausgestaltet sein, daß das einzelne Sprachsystem nahtlos daran anschließen und daß das Sprachenlernen unmittelbar darauf aufsetzen kann. Schließlich ist letzteres etwas, was den Menschen vom Tier unterscheidet und was dem Menschen, mindestens im Kindesalter, sogar leicht fällt. Daher stellt sich die Frage, ob die sprachlichen Universalien in den menschlichen Genen kodiert sind. Dies ist eine empirische Frage, die letztlich die Humangenetik beantworten wird. Solange die Antwort aussteht, ist folgende Unterscheidung plausibel:

Gelegentlich wird die zweite Position postuliert und als Theorie einer ‘universalen Grammatik’ ausgestaltet. Die Position ist auch als Nativismus (Angeborenheitsdoktrin) bekannt. Es gibt allerdings weder Kandidaten für angeborene Universalien, die diesen Status über mehr als zwanzig Jahre Wissenschaftsgeschichte gehabt hätten, noch sind überhaupt Methoden bekannt, wie man sie identifizieren könnte.

Kognitive Ebenen

Die zweite hier zu machende Unterscheidung betrifft zwei kognitive Ebenen:

Diese beiden Ebenen der Kompetenz sind weitgehend unabhängig voneinander. Es gibt einerseits Menschen, die sich sprachlich verständigen können, jedoch nicht in der Lage sind, hierüber einen vernünftigen Satz von sich zu geben (und etwa jemandem ihre Sprache beizubringen). Und es gibt andererseits Menschen (typischerweise Linguisten), die über eine bestimmte Sprache (etwa Latein) ein hohes Maß an reflexiver Kompetenz haben, ohne in der Sprache kommunizieren zu können. Für Zwecke des täglichen Lebens freilich ist die prozedurale Kompetenz fundamental. Aber in einem humanen Sinne vollkommen beherrscht man nur das, wofür man auch Verantwortung übernehmen kann; und die setzt reflexive Kontrolle voraus.

Für die beiden kognitiven Ebenen der Kompetenz gibt es auch zwei Arten von Gedächtnis:

Die beiden Arten von Gedächtnis haben unterschiedliches stammesgeschichtliches Alter; das deklarative Gedächtnis ist eine Errungenschaft von Homo sapiens. Dadurch erklärt sich auch ihre Ansiedlung in verschiedenen Regionen des Gehirns.

Aktive und passive Sprachbeherrschung

Die letzte hier zu besprechende Unterteilung betrifft die Weise bzw. Richtung des Verfügens über die Sprachfähigkeit, nämlich den Gegensatz zwischen Redeverstehen und Redeerzeugung:

Dazu kommt die mediative Kompetenz, d.i. die Fähigkeit, Nachrichten von einer Sprache in eine andere zu konvertieren. Sie ist eine komplexe Kombination der beiden vorgenannten Richtungen der Sprachkompetenz, nämlich die Kombination der passiven Kompetenz in einer Sprache mit der aktiven Kompetenz in einer anderen Sprache.

Diese Einteilung läßt sich wieder mit den verschiedenen Verständigungsmedien kreuzklassifizieren. Dann ergeben sich folgende Modi der sprachlichen Kommunikation:

Modi sprachlicher Kommunikation
Medium
Richtung   ╲
mündlichschriftlich
ErzeugungSprechenSchreiben
VerstehenHörverstehenLeseverstehen
MediationDolmetschenÜbersetzen

Nach diesen Modi untergliedert sich die Sprachkompetenz in modale Fertigkeiten (engl. skills), die in vielen Sprachstandstests prominent figurieren.

Das Verhältnis zwischen aktiver und passiver Sprachbeherrschung ist in mancherlei Hinsicht asymmetrisch:

Die Asymmetrie zwischen aktiver und passiver Sprachbeherrschung spielt vor allem bei Fremdsprachen eine große Rolle. Für viele Zwecke genügt es, eine Fremdsprache passiv zu beherrschen. Einer davon ist das Studium oder allgemeiner die Informationsgewinnung. Einen besonders klaren Fall stellen in diesem Zusammenhang antike Sprachen wie Latein oder Sumerisch dar, die viele Philologen und Historiker lesen können, während ihnen alle anderen Modi abgehen. Ein anderer derartiger Zweck ist die internationale Korrespondenz: Im akademischen Bereich ist weithin die “erasmische Kommunikation” (nach Erasmus von Rotterdam [1467-1536]) üblich, wo jeder Korrespondent zur Erzeugung seine Muttersprache benutzt.

Literatur

Lehmann, Christian 2007, "Linguistic competence: Theory and empiry." Folia Linguistica 41:223-278. [herunterladen]