Rein phonetischer Wandel ändert nur die phonetischen Merkmale von Segmenten. Wenn sich die paradigmatischen Beziehungen der so geänderten Laute zu den anderen des Systems dadurch nicht ändern, führt phonetischer Wandel allenfalls Allophonie ein, ändert aber das Lautsystem nicht.
Der im Neuhochdeutschen bestehende Wechsel zwischen [ç] und [χ] bestand im Althochdeutschen noch nicht. Das Phonem /x/ hatte dort ein einziges (Allo-)Phon, [χ]. Dann fand der Wandel von B1.a statt. Danach gab es zwei Allophone für /x/, aber die Relationen des Phonems zum Rest des Systems blieben dadurch unberührt. Entsprechendes läßt sich von dem Wandel in B1.b sagen.
B1. | a. | ahd. | [χ] → [ç] | / X __ | |
Bedingung: X ≠ [+hinten] | |||||
b. | engl. & kölsch | [l] → [ɫ] | / __K0 • | (d.h. im Silbenreim) |
Im Asturischen und anderen spanischen Dialekten tritt für /n/ am Wortende die velare Variante auf:
c. | astur. | /n/ → [ŋ] / __ ## |
Das Altgriechische verfügte über drei Reihen von Okklusiven:
Auf dem Weg zum Mittelgriechischen wurde die letzte Reihe in Frikative überführt (traditionell “spirantisiert”). Es resultierten die Laute [f θ χ] (wie in den Wörtern philosophía, theología, kharaktér). Es wurde lediglich das Merkmal [+ asp] durch das Merkmal [+ kont] ersetzt. Da es an diesen Artikulationsstellen aber zuvor keine Frikative gab, blieben die Phoneme der Sprache dieselben; sie hörten sich nur anders an.
Phonologischer Wandel hat als Resultat eine Veränderung des phonologischen Systems.
Das Altgriechische verfügte seit urindogeramnischen Zeiten über vordere gespreizte und hintere gerundete Vokale. Im ionischen Dialekt wurde das /u/ (geschrieben übrigens als <υ> “Ypsilon”) zu historischer Zeit nach vorne verlagert, also als [y] gesprochen (z.B. in Wörtern wie hupónumos “hyponym”). Auch das ist zunächst bloß eine phonetische Änderung. Sie verändert allerdings die Balance des Vokalsystems:
Die beiden Wandel ‘/u/ → /y/’ und ‘/ou/ → /u/’ wurden soeben so dargestellt, als habe der erstere den letzteren ausgelöst. Es kann auch umgekehrt gewesen sein. Oder, noch wahrscheinlicher, sie haben im systematischen Zusammenhang und also gleichzeitig stattgefunden.
Der phonetische vs. phonologische Wandel hieß ehemals auch subphonemischer vs. phonemischer Wandel.
Lautwandel ist (ebenso wie synchrone phonologische Prozesse) meistens durch den Kontext bedingt. Er heißt dann kombinatorischer Wandel. Ist er das nicht, so wird eine Einheit des Phonemsystems überall, wo sie in Texten vorkommt, verändert. Dies heißt spontaner (durch nichts ausgelöster) Lautwandel.
Spontaner Wandel betrifft ein Segment oder eine Klasse von Segmenten ohne Rücksicht auf Bedingungen, d.h. in allen Kontexten.
B2. | idg. | /o/ | → | germ. | /a/ |
idg. | *ok̑tow | → | ahd. | ahtau “acht” |
Im Ergebnis fällt das ehemalige /o/ mit dem ehemaligen /a/ zum neuen /a/ zusammen (s.u. zu Zusammenfall und Aufspaltung).
Die Germanische Lautverschiebung ist ein spontaner Lautwandel.1 Das Ergebnis ist – mit einiger Vereinfachung – ein Revirement ohne Zusammenfall.
Der Schwund von /h/ im Latein ist ein spontaner Lautwandel. Im Ergebnis fällt das ehemalige /h/ mit Ø zusammen, wodurch z.B. auch hortus “Garten” mit ortus “erstanden” homophon wird.
“Spontan” ist ein Wandel allerdings nur, soweit das Segment nicht in Merkmale analysiert wird. Wenn Lautwandel Merkmale betrifft, ist segmentaler (“spontaner”) Wandel durch andere Merkmale desselben Segmentes bedingt. Richtig ist aber jedenfalls die zugrundeliegende Idee, daß spontaner Wandel keine unmittelbare phonetische Plausibilität hat (“ohne nachvollziehbaren Anlaß stattfindet”).
Kombinatorischer Wandel betrifft ein Segment oder eine Klasse von Segmenten unter bestimmten Bedingungen, also in einigen der Kontexte, in denen sie vorkommen. Die Bedingungen können, wie in Phonetik & Phonologie, Kap. 10 gesehen, phonologischer oder morphologischer Art sein.
Assimilation ist der wichtigste Typ von phonologisch konditioniertem Lautwandel (bzw. von phonetisch-phonologischem Prozeß). Die Totalassimilation führt zu Zusammenfall von Phonemen. Die in der spanischen intervokalischen Verstimmhaftung von Okklusiven vorliegende partielle Assimilation führt, wie bei ihrer Darstellung zu sehen, zu Aufspaltung und Zusammenfall; die in der italienischen Palatalisierung vorliegende partielle Assimilation führt zu Aufspaltung eines Phonems.
Die Kontextbedingungen einer phonologischen Veränderung können auch morphologisch sein (vgl. anderswo zur Konditionierung). Ein Beispiel ist der lateinische Rhotazismus. Die morphologische Konditionierung führt hier im ersten Schritt zu Aufspaltung eines Phonems. Der zweite Schritt dagegen ist ein spontaner Wandel, der alle [z] (es gibt nur solche, die aus /s/ entstanden sind) in [r] überführt und folglich unter das Phonem /r/ subsumiert.
Wie bei der Darstellung der phonologischen Prozesse gesehen, beginnt der Umlaut historisch als phonologisch konditionierter Prozeß. Im weiteren Verlauf der Entwicklung der deutschen Sprache wird er jedoch durch morphologische Bedingungen beschränkt. Z.B. lautet der Stamm von Wolke zwar in Gewölk um, nicht aber in wolkig, obwohl das Suffix -ig in körnig doch den Umlaut auslöst. Dito heißt es von Amt zwar Ämter, aber amtlich, von dumm aber durchaus dümmlich. Einige Suffixe mit geschlossenem Vokal lösen also den Umlaut nur in gewissen Stämmen aus, und einige Stämme sind dem Umlaut nicht oder nur mit gewissen Suffixen zugänglich. Hier gelten also morphologische Bedingungen.
Überdies gibt es von Vater und Mutter die Umlautformen Väter und Mütter, wo keine phonologischen Bedingungen mehr bestehen. In solchen Fällen ist der Umlaut ein morphologischer Prozeß, nämlich eines der Allomorphe zum Ausdruck bestimmter grammatischer Kategorien – hier des nominalen Plurals – geworden.
Ein Lautwandel, der die Opposition zwischen zwei Phonemen zugunsten des einen aufhebt, ist Zusammenfall zweier Phoneme. Ein Lautwandel, der aus einem Phonem zwei macht, ist Aufspaltung eines Phonems.
Im Uriberoromanischen gab es eine Opposition zwischen /ʧ/ und /s/. Sie hat sich im Kastilischen erhalten in solchen Minimalpaaren wie cerrar “schließen” – serrar “sägen” oder cesión “Abtretung” – sesión “Sitzung”, wo sich allerdings das ehemalige /ʧ/ mittlerweile zu /θ/ verschoben hat. In anderen iberoromanischen Sprachen wurde das /ʧ/ jedoch (über Zwischenstufen) zu /s/. Im Andalusischen und Portugiesischen sind daher cerrar und serrar homophon (port. [səˈʀaʁ]), und ebenso port. cessão “Abtretung” und sessão “Sitzung” ([səˈsɐ̃w̃]). Synchron betrachtet, wird die Opposition neutralisiert. Im Ergebnis enthält erstens das Phonemsystem ein Mitglied nebst zugehörigen Oppositionen weniger und zweitens das Lexikon eine Reihe von Homonymen mehr.
Auch die lateinischen Monophthongierungen führen zu Zusammenfall.
Der hier resultierende Verlust eines Phonems ist zu unterscheiden von seiner Tilgung im Syntagma:
Zusammenfall mit einem anderen Phonem | Tilgung im Syntagma | |
---|---|---|
phonologischer Mechanismus | Neutralisation der Opposition mit einem anderen Phonem in bestimmten/allen Kontexten | ersatzlose Tilgung des Phonems aus bestimmten/allen Kontexten |
Konsequenz im System | Phonem schwindet | Phonem schwindet |
Konsequenz in Texten | es bleibt das Gegenstück des Phonems | es bleibt nichts von dem Phonem |
Im Urromanischen gab es die halboffenen Vokale /e/ und /o/, die als solche z.B. in ital. probo 1) “versuche”, 2) “tüchtig” und in port. neto 1) “Enkel”, 2) “sauber” erhalten sind. Im Kastilischen werden sie unter bestimmten Bedingungen unter Akzent zu /ue/ bzw. /ie/ diphthongiert. Dadurch entstehen z.B. pruebo “versuche” und nieto “Enkel”. Die Diphthonge [ie] und [uo] sind zunächst bloß konditionierte Allophone der Phoneme /e/ bzw. /o/. In einem zweiten Schritt treten jedoch weitere Lautwandel auf, die dazu führen, daß diese Diphthonge in denselben Kontexten wie die Monophthonge, ihre ehemaligen Allophone, auftreten. Jetzt hat man im Kastilischen eine Opposition zwischen probo “tüchtig” und pruebo “versuche”, zwischen neto “sauber” und nieto “Enkel”. Die Phoneme /e/ und /o/ haben sich in je zwei Phoneme bzw. Phonemkomplexe gespalten.
Spontaner Lautwandel kann nur zu Zusammenfall, nicht zu Aufspaltung führen. Aufspaltung ist zunächst immer kontextbedingt, also allophonisch. Neue phonemische Einheiten entstehen in einer Sprache so, daß zunächst eine durch den Kontext konditionierte Allophonie auftritt, die phonetisch neu ist. Sekundär verschwinden die konditionierenden Faktoren, und die vormalige Allophonie wird zur Opposition. Die Reanalyse einer solchen Alternation als Opposition ist ihre Phonologisierung. Wir sahen bereits ein englisches Beispiel für solche Reanalyse. Dort wurden keine neuen Phoneme eingeführt. Dies geschieht jedoch in den folgenden beiden Beispielen:
Das Altfranzösische hatte bloß Oralvokale (Phase 0 im untigen Schema). Vokale vor Nasal in derselben Silbe wurden allophonisch nasaliert (Phase 1). Erst indem in einem weiteren, davon unabhängigen Wandel auslautende Konsonanten – darunter eben auch das ehemals dem Vokal folgende /n/ – apokopiert werden und somit der die Allophonie konditionierende Kontext wegfällt, wird der Gegensatz von oralen und nasalen Vokalen phonologisiert (Phase 2).
Im ersten Stadium findet die bei der Darstellung der phonologischen Prozesse gesehene Palatalisierung statt. Sie führt zu Allophonie; die Varianten [k] ~ [ʧ] sind komplementär verteilt.
In einem zweiten Stadium werden [k] und [g] vor vorderem Vokal neu eingeführt, vor allem dadurch, daß [kw] zu [k] vereinfacht wird, wie in lat. qui [kwi] "wer" > ital. chi [ki]. Jetzt hat man die beiden Laute im selben Kontext, folglich in Opposition.
Stufe | Prozeß | Velar | Palatal | ||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
Schreibung | Laut | Bedeutung | Schreibung | Laut | Bedeutung | ||
altitalien. | Allophonie | amico | a'miko | Freund | amici | a'miʧi | Freunde |
leggo | 'leg:o | lese | legge | 'leʤ:e | liest | ||
neuitalien. | Phonologi- sierung |
chi | ki | wer | ci | ʧi | da |
casco | 'kasko | Helm | ciascuno | ʧas'kuno | jeder | ||
ghiro | 'giro | Siebenschläfer | giro | 'ʤiro | Drehung | ||
gallo | 'gal:o | Hahn | giallo | 'ʤal:o | gelb |
Dieser Lautwandel und seine Konsequenzen für die Orthographie sind auf einer anderen Webseite allgemeinverständlich dargestellt.
Eine phonetische Alternation (vgl. Phonetik & Phonologie, Kap. 10.4) geht in eine phonologische über, wenn die ehemaligen Varianten auch auftreten, ohne daß die Bedingungen der Alternation erfüllt sind. Die paradigmatische Beziehung wird dann phonologisiert. Dies geschieht z.B. bei der französischen Nasalierung und der italienischen Palatalisierung.
Eine morphologisch konditionierte phonologische Alternation geht in eine morphologische über, wenn sie auch auftritt, ohne daß die Bedingungen der Alternation erfüllt sind. Was die morphologische Bedingung war, wird dann als Bedeutung der Alternation reanalysiert. Die Alternation wird morphologisiert. Dies geschieht z.B. beim Umlaut im Deutschen.
Eine phonologische Opposition wird dephonologisiert, wenn sie zur Allophonie wird. Die ehemaligen Phoneme geraten in freie Variation oder komplementäre Verteilung, oder die Opposition wird zugunsten eines der Glieder neutralisiert. Die oben gegebenen Beispiele für Zusammenfall sind gleichzeitig Fälle von Dephonologisierung einer Opposition.
1 Die Germanische und die Hochdeutsche Lautverschiebung dienen traditionellerweise als Paradebeispiele für spontanen Lautwandel. Genau gesehen, sind beide kombinatorisch, insofern als sie in bestimmten Kontexten nicht stattfinden. Z.B. werden die stimmlosen unaspirierten Plosive nach /s/ nicht verschoben. Das heißt aber nichts anderes, als daß auch diese Lautverschiebungen bestimmten Kontextbedingungen unterliegen.