Variation gehört zu den fundamentalen Gegebenheiten im Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft; alles Sprachliche hat den Status einer Variante. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist es, festzustellen, was genau da variiert, und das Prinzip der Variation aufzudecken. Weiterführendes im Skript über Sprachtheorie.
Phonetische Variation kann zurückgehen auf physische Unterschiede zwischen Sprechern oder unterschiedliche Artikulationsgewohnheiten. Sie machen verschiedene Stimmlagen aus; s. Kap. 4.3. Daneben gibt es parasprachlich bedingte Variation, z.B. Rede im Affekt.
Von größerem Interesse für die Linguistik ist kontextbedingte Variation. In natürlichen Sprachen ist alles Sprachliche kontextsensitiv. Kontextfreie Sprachen sind formale Sprachen.
Ein wichtiger phonetischer Faktor in der Variation ist die Koartikulation. Sie ist allerdings nicht rein mechanisch zu erklären, sondern variiert zwischen verschiedenen phonologischen Systemen. Sie führt zu Assimilation. Häufig ist das Schriftsystem konservativ gegenüber solchen Veränderungen.
Der Lautstrom wird segmentiert (in Abschnitte unterteilt), und die Segmente werden klassifiziert. Die Methode ist die gleiche wie in der Morphologie. Der Linguist vollzieht dadurch die Diskretheit der sprachlichen Einheiten her (die er auch dem Sprecher unterstellt).
Bei der Segmentierung werden schrittweise immer kleinere Einheiten abgetrennt. Man beginnt z.B. mit Einheiten, die zwischen zwei Pausen stehen (Atemgruppen), unterteilt diese in Silben und diese dann in minimale Segmente. Die Unterteilung einer Einheit in zwei Untereinheiten ist dann abgeschlossen, wenn der linke Teil ohne den rechten nicht vorkommt. Dann steht man vor einem minimalen Segment, das nicht weiter zu unterteilen ist. Solche Einheiten nennt man Phon.
Die Klassifikation auf der untersten Stufe dient lediglich dazu, solche Phone, welche Varianten einer funktionalen Einheit sind, zu einer Klasse zusammenzufassen. (Ein Beispiel, das freilich die untigen Erläuterungen vorwegnimmt, wäre die Zusammenfassung von [ʀ] ~ [ʁ] ~ [ʁ̨] zu /r/ im Deutschen.) Auf höheren Stufen der Klassifikation und der Analyse fungiert eine solche Klasse dann als Einheit.
Um den Status von Einheiten zu ermitteln, stellt man ihre paradigmatischen und syntagmatischen Relationen fest. Die Methoden, dies zu tun, sind pro Dimension eine Art von Manipulation der zu testenden Einheit:
Relation | Manipulation | Test |
paradigmatisch | Substitution | Ersatzprobe |
syntagmatisch | Permutation | Verschiebeprobe |
Relation | Beispiel | Einheiten |
Opposition | [paχt] vs. [paʁt] | Phoneme /x/ vs. /r/ |
komplementäre Verteilung | [paχt] vs. ['pɛçtɚ] | Allophone [χ] und [ç] des Phonems /ç/ |
freie Variation | [paʀt] vs. [paʁt] | Allophone [ʀ] und [ʁ] des Phonems /r/ |
Die Distribution einer sprachlichen Einheit ist die Menge der Kontexte, in denen sie vorkommt.
Zwei sprachliche Einheiten stehen in Opposition, wenn sie dieselbe Distribution haben, (wenn also die Ergebnisse ihrer Substitution mit dem Sprachsystem vereinbar sind,) aber etwas Verschiedenes bedeuten bzw. verschiedene Funktion haben. Sind diese Einheiten Laute, so sind sie bedeutungsunterscheidend (distinktiv).
Bsp.: dt. [p] : [b].
Zwei (verschiedene) Wörter, die sich nur in einem einzigen Phon an einer gegebenen Position unterscheiden, bilden ein Minimalpaar. Das Bestehen eines Minimalpaars beweist, daß die beiden betreffenden Phone verschiedene Funktionen erfüllen, folglich in Opposition stehen.
Bsp.: dt. ['paɪlə] : ['zaɪlə].
Unterscheiden sich die Mitglieder des Minimalpaars nur in dem Wert eines einzigen Merkmals, so beweist es, daß das Merkmal in der Sprache distinktiv ist.
Bsp.: dt. ['paɪlə] : ['baɪlə].
Zwei sprachliche Einheiten stehen in komplementärer Verteilung, wenn sie keinen Kontext gemeinsam haben, so daß sich ihre Distributionen nicht überlappen, sondern ergänzen.
Die komplementäre Verteilung zweier Einheiten deutet darauf hin
Bsp.: engl. [l] ~ [ɫ].
Zwei sprachliche Einheiten stehen in freier Variation, wenn sie dieselbe Verteilung haben, ohne daß die Substitution der einen durch die andere einen semantischen oder funktionalen Unterschied ergibt.
Bsp.: dt. [ʀ] ~ [ʁ]
Ein Phon ist ein unklassifizierter Sprachlaut. Lautsymbole, die den Status von Phonen haben, werden in eckige Klammern eingeschlossen.
Zwei Phone sind Allophone voneinander (oder von einem Phonem), wenn sie zueinander in komplementärer Verteilung oder freier Variation stehen.
Ein Phonem ist eine Menge von Allophonen, die zu anderen derartigen Mengen in Opposition steht. Lautsymbole, die den Status von Phonemen haben, werden in Schrägstriche eingeschlossen.
Als abstrakte Einheit betrachtet, ist ein Phonem ein distinktiver Laut.
Das Phonem kann auf verschiedene Weisen konzipiert werden:
Anders als ein Phon ist ein Phonem kein konkreter – ausprech- und hörbarer – Laut, sondern jedenfalls etwas Abstraktes. Das Phonem wird durch die Phone repräsentiert. Das gilt auch dann, wenn ein Phonem nur durch ein einziges Phon repräsentiert wird, wie z.B. bei hochdeutsch /l/: [l].1
Die Kontextbedingungen, die über komplementärer Verteilung walten, können verschiedener Art sein. Die Bedingungen einer phonologischen Alternation können rein phonologisch oder sie können teilweise oder ausschließlich morphologischer Natur sein.
Es folgen drei Beispiele:
Die folgenden phonologischen Alternationen sind morphologisch konditioniert:
tàatah "Vater" | o'ch "Essen" | ||||
Numerus Person ╲ |
Sg. | Pl. | Sg. | Pl. | |
1. | in tàatah | k tàatah | in wo'ch | k o'ch | |
---|---|---|---|---|---|
2. | a tàatah | a tàatah-e'x | a wo'ch | a wo'ch-e'x | |
3. | u tàatah | u tàatah-o'b | u yo'ch | u yo'ch-o'b |
Das Basisallophon ist dasjenige einer Menge von Allophonen, dessen Auftreten keinen Bedingungen unterliegt ("elsewhere-Prinzip", Default-Fall). Die anderen Allophone eines Phonems sind konditionierte Varianten:
Wenn man eine konditionierte Variation in einer Weise beschreibt, die in einen Algorithmus soll umgesetzt werden können, dann spezifiziert man zunächst diejenigen Varianten, für welche die engsten Bedingungen gelten – die Ausnahmen also – und geht dann schrittweise zu den allgemeineren über. Hat man alle Bedingungen abgearbeitet, bleibt für die Basisvariante nur noch die Feststellung, daß sie in allen anderen Fällen (engl. elsewhere) auftritt.
Die Zusammenfassung einer Menge von Phonen zu einem Phonem ist so wie angegeben rein phonologisch definiert. Wegen der teilweisen Unabhängigkeit der phonologischen und phonetischen Ebene gibt es aber Fälle, wo Phone in komplementärer Verteilung stehen und folglich zu einem Phonem zusammengefaßt werden müßten, die offensichtlich phonetisch nichts miteinander zu tun haben. Dies gilt z.B. für [ŋ] vs. [h] im Englischen und Deutschen. Solche Phoneme lassen sich nur dadurch ausschließen, daß man zusätzlich zu den distributionellen Kriterien noch phonetische Ähnlichkeit verlangt.
Die Lehre von den syntagmatischen Relationen in der Phonologie ist die Phonotaktik. Im Unterschied zu der Lehre von den phonologischen Prozessen betrachtet die Phonotaktik syntagmatische Relationen zwischen distinktiven (oder zugrundeliegenden) Einheiten auf lexikalischer Ebene, insbesondere Beschränkungen über deren Kombination. Des näheren ist der Gegenstand der Phonotaktik vor allem die Silben- und Morphemstruktur. Alles weitere zum Thema Phonotaktik in Kap. 14.
Die allgemeinste syntagmatische Relation in der Phonologie, die der Opposition entspricht, ist der Kontrast. Ein wichtiger Fall davon ist Prominenz. Auf segmentaler Ebene, d.h. als Relation zwischen Segmenten, erscheint sie als Sonorität und Syllabizität [was evtl. dasselbe ist]. Auf suprasegmentaler Ebene erscheint sie als Akzent und Intonation.
Wie in anderen Bereichen des Sprachsystems auch, gibt es in der Phonologie zwei Arten von Ebenen: Komplexitätsebenen und Abstraktionsebenen.
Die phonologischen Einheiten der folgenden Tafel definieren verschiedene Komplexitätsebenen.
Einheit | Bemerkung |
---|---|
Atemgruppe | phonetische Einheit |
Tongruppe | phonetische Einheit |
phonologisches Wort | |
Silbe | |
Segment | |
Merkmal (inkl. Suprasegmentalia) | eher Eigenschaft als Einheit |
Eine Atemgruppe (oder ein Cursus) ist ein Abschnitt der Rede, der von Pausen begrenzt ist und keine enthält.
Eine Tongruppe ist ein Abschnitt der Rede, innerhalb dessen Tonsandhi gilt.
Ein phonologisches Wort (oder eine Akzentgruppe) ist ein Abschnitt der Rede, der einen Hauptakzent enthält, der von Pausen begrenzt sein, aber keine Pausen enthalten kann.
Eine Silbe ist ein Abschnitt der Rede, der genau einen Sonoritätsgipfel enthält und von Tiefpunkten der Sonorität begrenzt ist.
Ein phonologisches Segment ist ein Abschnitt der Rede, in dem kein phonologisches Merkmal seinen Wert wechselt.
Phonem und Phon (Allophon) definieren verschiedene Abstraktionsebenen, d.h. sie unterscheiden sich in der Abstraktheit, da Allophone Varianten eines Phonems sind. Aber auch Phoneme sind manchmal Varianten voneinander:
In bestimmten Kontexten kann eine anderweitig bestehende Opposition ausgeschlossen sein. Dort treten
In solchen Kontexten ist die Opposition neutralisiert. Die methodische Konsequenz ist, daß man in einem solchen Fall nicht mehr von einer gegebenen phonetischen Repräsentation auf eine einzige phonemische Repräsentation schließen kann. Mehr dazu in Abschnitt 10.3.2.4.
Das Archiphonem ist ein abstraktes Konstrukt: der kleinste gemeinsame Nenner von verschiedenen Phonemen, deren Opposition neutralisiert wird.
Z.B. ist im Deutschen /K/ das Archiphonem für /k/ vs. /g/, welches im Silbenauslaut, z.B. in Tag, auftritt. Es ist für Stimmhaftigkeit nicht spezifiziert.
Das Morphophonem ist eine Einheit derjenigen (abstrakten) Repräsentation des Significans, die ihm qua lexikalische Einheit beigegeben ist, d.h. unabhängig von ("vor") jeglichen Veränderungen, die seine Verwendung in Äußerungen bedingt. Lautsymbole, die den Status von Morphophonemen haben, werden in geschweifte Klammern eingeschlossen.
Z.B. ist das letzte Segment von dt. Tag das Morphophonem {g}.
Das Archiphonem ist also ein Ableitungsprodukt, während das Morphophonem eine zugrundeliegende Einheit ist. Wenn das Archiphonem gerade eines der sonst kontrastierenden Phoneme ist, so kann ein gegebenes Phon – eben das Archiphonem – in solchen Kontexten alternativ zwei Phonemen entsprechen. Hier geht also die Eindeutigkeit der Zuordnung von Phonen zu Phonemen (Biunikalität) verloren. Für die Phonemiker war das ein Problem.2 Wenn aber Phoneme keinen fundamentalen Status in der Theorie haben, erledigt sich das Problem. M.a.W., es bleibt dabei, daß das [t] in bat ein {t} repräsentiert, das [t] in Bad jedoch ein {d}.
Die methodische Lehre aus dem Beispiel ist, daß es besser ist, eine Alternation durch abstrakte Einheiten zu erfassen und dabei schlimmstenfalls den Verlust der Biunikalität in Kauf zu nehmen, als den lautlichen Zusammenhang zwischen Varianten eines Zeichens – also z.B. [ba:t] (wie in Bad) und [ba:d] (wie in Bade) als Varianten von {ba:d} – zu verlieren. Auch Orthographien folgen meistens diesem Prinzip.
Eine andere Überlegung führt zu demselben Ergebnis. Im Rahmen einer Phonemtheorie gilt folgendes:
Das Konstrukt des Phonems verhindert also die Gleichbehandlung empirisch gleicher Fälle in der Theorie. Sein Status in der phonologischen Theorie ist daher fraglich; es ist wohl eher ein für viele Zwecke praktisches Beschreibungskonstrukt.
In der Phonologie ebenso wie in anderen durch einzelne Teile des Sprachsystems konstituierten linguistischen Disziplinen rechnet man mit verschiedenen Repräsentationsebenen für sprachliche Einheiten, die durch verschiedene Abstraktionsstufen definiert sind. In der Phonologie kommen die folgenden in Betracht:
Morphophonem |
Phonem |
Phon |
Token |
Von diesen ist die unterste als per definitionem nicht repräsentierbar abzuziehen (Näheres anderswo). Die oberen drei Ebenen sind in der Phonemik geläufig. Wenn man die Ebene des Phonems, wie im vorigen Abschnitt besprochen, mit der des Phons zusammenlegt, kommt man zu folgendem System:
Beispiel
Ebene ╲ |
Mieter | Pächter |
---|---|---|
lexikalisch ("morphophonemisch") |
{mi:t}{-er+[Umlaut]} | {paçt}{-er+[Umlaut]} |
systematisch-phonetisch | ['mi:tɚ] | ['pɛçtɚ] |
Das Beispiel der englischen Ersatzdehnung zeigt, daß das Prinzip der variablen Repräsentation einer Einheit einer abstrakten Ebene durch Einheiten einer konkreten Ebene nicht nur auf der paradigmatischen, sondern auch auf der syntagmatischen Achse gilt.
Schließlich seien die besprochenen phonologischen Abstraktionsebenen zusammengefaßt und ihren Entsprechungen in der Morphologie (die anderswo besprochen werden) zum Vergleich gegenübergestellt:
Phonologische Einheiten | Morphologische Einheiten | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
Morphophonemi | |||||||
╱ | ╲ | ||||||
Phonemi | Phonemj | Morphemi | |||||
╱ | ╲ | ╱ | ╲ | ╱ | │ | ╲ | |
Phoni | Phonj | Phonk | Phonl | Morphi | Morphj | Morphk |
Clark & Yallop ch. 4
1 Phoneme kann man nicht sprechen und nicht hören. Nichtsdestoweniger glauben linguistisch Halbgebildete, sie müßten Phonem anstelle von Laut sagen. Z.B. bietet die Fa. DAZ Productions (22.12.2006) ein 3D-Modell einer menschlichen Figur an, zu dem man die auf Sprachlaute bezogenen Lippenbewegungen unter der Bezeichnung ‘phonemes’ nachbeziehen kann.
2 Es ist kein theoretisches, sondern lediglich ein methodisches Problem. In einer induktiven Methodik will man aus einer gegebenen phonetischen Repräsentation die zugehörige phonemische Repräsentation eindeutig ableiten können. Das geht aber nur dann, wenn es zwischen Phonemen und Allophonen nur 1:1- und 1:n-Zuordnungen und keine n:1-Zuordnungen gibt.