Wir hatten bereits im lexikalischen Wandel gesehen, daß lexikalisch-morphologische Struktur uminterpretiert werden kann. Das Entsprechende passiert auch mit grammatischer Struktur. Der Vorgang heißt Reanalyse (O. Jespersen nannte ihn ‘Metanalysis’). Es folgen zwei Beispiele aus der Flexionsmorphologie. Beide betreffen die Entstehung von nominalen Pluralsuffixen im Deutschen.
Vom indogermanischen Stamme *ukwsen- “Ochse” wurden im Nominativ folgende Formen gebildet:
Sg. *ukwsē (unregelmäßig) – Pl. *ukwsen-es
Auf dem Weg ins Germanische werden die Deklinationssuffixe apokopiert. Im Nominativ verbleiben:
dt. Ochse – Ochsen
engl. ox – oxen
Was vordem Bestandteil des Stamms war, nämlich -en, wird nun als Pluralendung reanalysiert. Die neue Pluralendung breitet sich hernach per Analogie auf andere Substantive wie Frau(en) und (durch Übercharakterisierung) engl. children aus, die niemals -n an dieser Stelle hatten.
Ein ganz ähnliches Schulbeispiel für Reanalyse in der Flexionsmorphologie ist die Entstehung des deutschen Plurals auf -er bei den Neutra. Im Indogermanischen gab es Neutra, deren Stamm auf *-es endete, wie *lombhes- “Lamm”. Die Formen im Nominativ lauteten Sg. *lombhes, Pl. *lombhes-ā. Dieses Substantiv flektierte im Germanischen so, wie in folgender Tabelle gezeigt.
Numerus Kasus ╲ |
Germanisch | Althochdeutsch | ||
Singular | Plural | Singular | Plural | |
Nom./Akk. | *lamb-iz | *lamb-iz-ō | lamb | lemb-ir |
---|---|---|---|---|
Genitiv | *lamb-iz-iz | *lamb-iz-ōn | lamb-es | lemb-ir-o |
Dativ | *lamb-iz-e | *lamb-iz-um | lamb-e | lemb-ir-um |
Noch auf germanischer Stufe handelt es sich um Stämme, die mit einem /iz/-Suffix gebildet sind, welches in der Deklination unverändert bleibt. Auf dem Weg zum Althochdeutschen wird das intervokalische /z/ zu /r/, und weiterer Lautwandel führt zur Kürzung und zum Verlust zahlreicher Deklinationsendungen. Es resultiert das in der Tabelle rechts angeführte Paradigma. Hier kommt nun das ehemalige Stammsuffix nur noch im Plural vor, so daß sich seine Interpretation als Pluralsuffix nahelegt. Als solches breitet es sich in der Folge auf andersstämmige Neutra (z.B. Haus) und letztlich sogar auf Maskulina (z.B. Mann) aus.
Die innere hierarchische Struktur einer komplexen grammatischen Einheit kann in dem Sinne reanalysiert werden, daß eine Komponente einem anderen Träger (bzw. Kopf) als zuvor zugewiesen wird oder – allgemeiner – daß die enthaltenen – morphologischen oder syntaktischen – Grenzen anders gezogen werden. Diese Art von Reanalyse heißt Gliederungsverschiebung.
Im archaischen Latein bestand desubstantivische Adjektivierung mithilfe eines Suffixes -no, wie in domu- “Haus” – domi-no- “zum Hause gehörig” (dominus “Hausherr”) oder fāgo- “Buche” – fāgi-no- “buchen [aus Buche]”. Während bei diesen Beispielen der Stammvokal der Basis zu /i/ geschwächt wird, wird er bei a-Stämmen gedehnt: Rōma “Rom” – Rōmāno- “römisch”, silva “Wald” – silvāno- “waldbewohnend”. Hier wird nun folgende Proportion hergestellt:
Rōm-am : Rōm-āno- = urb-em : x; x = urb-āno-(Rōmam “Rom:AKK”, urbem “Stadt:AKK”, urbāno- “städtisch”).
So wird ein neues Suffix -āno- gewonnen, das weitere Adjektive wie montāno- “bergbewohnend” (von mont- “Berg”) bildet. Dieses Suffix entsteht durch falsche Abtrennung, denn in Rōmāno- lag ja ursprünglich ein Suffix -no- vor.
Weitere Beispiele unten.
Der gleiche Prozeß passiert auch in der Syntax (vgl. Paul 1920, Kap. 16: "Verschiebung der syntaktischen Gliederung").
B1. | a. | Erna ging um Wasser. |
b. | Erna ging [ um Wasser ] [ zu holen ]. | |
c. | Erna ging [ um [ Wasser zu holen ]]. |
Das Syntagma von B1.b wird nun wie in B1.c reanalysiert. Hier regiert die Präposition um nun nicht mehr bloß den nominalen Repräsentanten des angezielten Gegenstands, sondern die ganze komplexe Infinitivkonstruktion, während ersterer von letzterer abhängt. So entsteht das, was in der deutschen Grammatik ‘erweiterter Infinitiv mit um ... zu’ heißt. Sekundär wird er auch bei intransitiven Verben wie um zu arbeiten angewandt.
Im Umgangsdeutschen existiert seit Jahrhunderten ein pränominales possessives Attribut im Dativ, wie in dem Jungen seine Hose = Standard die Hose des Jungen. Auch diese Konstruktion ist durch Gliederungsverschiebung entstanden, und zwar wie folgt: Seit indogermanischen Zeiten haben wir den sog. ‘Pertinenzdativ’ (zuvor ‘dativus possessivus’, seit Ende 20. Jh. auch ‘externer Possessor’ genannt), wie dem Jungen in B2.a. Diese Konstituente kam in zahlreichen Fällen unmittelbar vor das NS zu stehen, welches das Possessum (“Besessene”) repräsentiert, wie in B2.b.
B2. | a. | Dem Jungen zerriß die/seine Hose. |
b. | Da zerriß [ dem Jungen ] [ seine Hose ]. | |
c. | Da zerriß [ des Jungen Hose ]NP. | |
d. | Da zerriß [ dem Jungen seine Hose ]NP. |
B2.b ist für die allermeisten Zwecke synonym mit B2.c (wir reden von einer Phase des Deutschen, wo pränominale Genitivattribute noch üblich waren). Dies motiviert seine Reanalyse als B2.d, wo es dieselbe Struktur wie B2.c hat. Von Stund' an hat (Umgangs-)Deutsch ein pränominales Dativattribut.
Es gibt im Deutschen perfektische Absolutkonstruktionen wie die in B4.
B4. | a. | von diesen Problemen (ganz) abgesehen |
b. | die Anwesenden (einmal) ausgenommen |
Das Partizip regiert hier sein Komplement auf die aktivische Weise. Solche Konstruktionen können als Postpositionalsyntagmen interpretiert werden. Analogische Vorbilder wären etwa Wendungen wie von diesen Problemen wegen = dieser Probleme wegen oder den Anwesenden nach. Die eingeklammerten Adverbien in B4 wären dann nicht mehr möglich, da sie nur zu Verben passen. Nachdem diese Reanalyse vollzogen ist, können die neuen Postpositionen sekundär zu Präpositionen umgestaltet werden, wie in B5.
B5. | a. | abgesehen von diesen Problemen |
b. | ausgenommen die Anwesenden |
Genauso sind Konstruktionen auf der Basis präsentischer Partizipien zu analysieren wie das Gespräch von letzter Woche (zentral) betreffend > (*zentral) betreffend das Gespräch von letzter Woche; deinen Vorschlägen (präzise) entsprechend > (*präzise) entsprechend deinen Vorschlägen usw.1, 2.
Das Standardfranzösische hat Inversion von Subjektspronomen und finitem Verb in Satzfragen. Dabei wird das klitische Subjektspronomen, das sonst dem finiten Verb vorangeht (B6.a), diesem enklitisch angehängt, wie in B6.b.
B6. | a. | Votre père (il) part. “Ihr Vater bricht auf.” |
b. | Votre père part-il? “Bricht Ihr Vater auf?” | |
c. | Votre père par-ti? (dito) | |
d. | Y a-t-il des cérises? “Gibt es Kirschen?” |
Wegen der Regeln der Liaison wird in Konstruktionen wie B6.b vor dem Personalklitikum ein /t/ hörbar, das in B6.a fehlt und das kaum noch als Kennzeichen der 3.Ps. identifiziert wird. Stattdessen wird es als Bestandteilt des folgenden Klitikums interpretiert (das seinerseits sein finales /l/ verliert), und das neue Morphem wird als Interrogativsuffix reanalysiert. Das interrogative /t/ existiert auch in der Standardsprache, wird dort allerdings, wie in B6.d, in der Orthographie abgetrennt.
Reanalyse (auch Reinterpretation, Umdeutung oder Metanalyse) ist eine Operation über einem Zeichen (bzw. einer Klasse von Zeichen), die ihm eine neue morphologische oder syntaktische Struktur verleiht, ohne sein Significans anzutasten (die veränderte Struktur kann man als solche nicht “sehen”). Das Significatum kann sich in dem Maße ändern, wie die neue Struktur neue grammatisch-semantische Merkmale involviert. Sicher diagnostizierbar ist die stattgehabte Reanalyse allerdings erst in dem Moment, wo das Zeichen neue Ausdruckseigenschaften (inkl. veränderte Distribution) erwirbt, die seine veränderte interne Struktur voraussetzen. So kann man sicher sein, daß das Partizip eine Adposition geworden ist, wenn es dem Komplement vorangestellt wird und nicht mehr mit Adverbien kombinierbar ist. Dies betrifft jedoch nur die linguistische Methode; die Reanalyse besteht nicht in diesen neuen Ausdruckseigenschaften, sondern wird von ihnen vorausgesetzt.
Einem Ausdruck, der bereits eine Struktur hat, weist man nicht ohne Motivation eine andere Struktur zu. Für jede Reanalyse gibt es analogische Vorbilder. So könnte ae. cherries (s.u.) nicht als Pluralform reanalysiert werden, wenn es nicht bereits Pluralformen auf s gäbe. Die deutschen Partizipien würden nicht als Adpositionen reanalysiert werden können, wenn es im Deutschen keine Postpositionen gäbe. Der Pertinenzdativ könnte nicht als Attribut reanalysiert werden, wenn es nicht bereits pränominale – und sogar possessive – Attribute gäbe; usw. Reanalyse setzt also Analogie voraus.
Im Gegensatz zu Grammatikalisierung gibt es bei Reanalyse keinen Autonomieverlust. Ein Suffix -āno- ist so wenig autonom wie ein Suffix -no-. Bei der eingangs besprochenen Gewinnung neuer Pluralsuffixe könnte man allenfalls von einem Zuwachs an Autonomie sprechen. Wenn ein Partizip als Adposition reinterpretiert wird, verliert es an Autonomie. Aber das liegt nicht im Vorgang der Reanalyse, sondern daran, daß in diesem Falle ein rein lexikalisches Element zu einem Formativ wird. Es gibt auch keine Zwischenstufen; Reanalyse ist nicht graduell. Z.B. gibt es nur entweder B2.b oder B2.d, aber keinen stufenweisen Übergang zwischen den alternativen Analysen.
Reanalyse ist, i.Ggs. zu Grammatikalisierung, grundsätzlich ungerichtet oder bidirektional. Durch falsche Abtrennung hinter dem indefiniten Artikel entstehen:
Das Entsprechende gilt für das englische Pluralsuffix:
Die Reanalyse ist also im Einzelfall gerichtet, nämlich auf ihr jeweiliges analogisches Vorbild, prinzipiell jedoch ungerichtet. Diese Ungerichtetheit erbt sie von der Analogie, auf der sie ja basiert.
Reanalyse unterscheidet sich also von Grammatikalisierung mindestens durch folgende Eigenschaften:
1 Zur Verwendung des Ungrammatikalitätssternchen im Zusammenhang mit den Optionalitätsklammern s. anderswo.
2 Sequenzen wie präzise deinen Vorschlägen entsprechend oder ganz abgesehen von diesen Problemen kommen zwar vor, dürften aber die Struktur [präzise] [deinen Vorschlägen entsprechend] bzw. [ganz] [abgesehen von diesen Problemen] haben.