2. Sprachwissenschaft und -philosophie

DatenEreignis
600-300Veda-Philologie, mündet in altindische Grammatik
ca. 4. Jh. v. Ch.  Pāṇini
ca. -388Platon, "Kratylos"
Homerphilologie
-1. Jh.Dionysios Thrax, Tékhnē grammatikḗ erste autonome abendländische Grammatik.
2. Jh.Apollonios Dyskolos, erste abendländische Syntax.
4. Jh.Aelius Donatus, Ars grammatica. Kodifiziert die Schulgrammatik bis heute.
6. Jh.Priscianus, Institutiones rerum grammaticarum. Umfassende und systematische lateinische Grammatik.
Die tékhne grammatiké ist die Kunst des Schreibens. Die ganze antike Grammatik handelt von der Schriftsprache. Buchstaben und Laute werden nicht unterschieden, die Silbenlehre handelt nicht von den Sprechsilben, sondern von der Worttrennung beim Schreiben. Auch diese Auffassung pflanzt sich bis in unsere heutige Schulgrammatik fort.
1200-1600Scholastik, Modismus. Grammatische Kategorien sind modi significandi.
1300-1310Thomas v. Erfurt, Novi modi significandi.
1600-1800Allgemeine Grammatik. Bestimmte die frz. SW im 17. u. 18. Jh. Kam erst um 1800 in Deutschland zum Zuge. Keine empirische SW. Idee der universalen Grammatik: Grammatica est una, licet accidentaliter varietur.
1660Antoine Arnauld & Claude Lancelot, Grammaire générale et raisonnée = Grammatik von Port Royal.
1726-28Johann Schilter, Thesaurus antiquitatum teutonicarum (ahd. Texte)
1737Johann G. Wachter, Glossarium Germanicum
1748-85erste Ausgaben mhd. Dichtung
1749Jean-J. Rousseau, Essai sur l'origine des langues. Besondere Wertschätzung primitiver, ursprünglicher Sprachen.
1770János Sajnovics, Demonstratio idioma ungarorum et lapporum idem esse
1772J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache.
1784Lorenzo Hervás, Catálogo de las lenguas .... In den Missionarsgrammatiken herrscht die lateinische Schulgrammatik.
1773Friedrich K.F. Fulda, Über die beiden Hauptdialekte der deutschen Sprache (Got. u. Ahd.)
1776F.K.F. Fulda, Sammlung und Abstammung germanischer Wurzelwörter
1786John Horne Tooke, Epea pteroenta, or: The diversions of Purley
1786William Jones entdeckt die Verwandtschaft des Sanskrit mit Latein, Griechisch u.a. (veröff. 1788). Anfang der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft.
1787Christian J. Kraus, Rezension des Allgemeinen vergleichenden Wörterbuchs von Pallas
1799Sámuel Gyarmathi, Affinitas linguae hungaricae cum linguis fennicae originis grammatice demonstrata. Begründet die Finno-Ugristik.
1806-17J. Ch. Adelung & J. S. Vater, Mithridates.
1808Friedrich Schlegel, Über die Sprache und Weisheit der Indier. Begründet die Indologie und die Sprachtypologie.
1812-15Jacob Grimm, Deutsche Märchen
1816Franz Bopp, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Begründung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft; romantisches Verstehen der Gegenwart aus der Vergangenheit, aber auch Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft.
1817-32germanistische und indogermanistische sprachvergleichende Publikationen des Rasmus K. Rask
1819-37J. Grimm, Deutsche [d.h. germanische] Grammatik, d.i. die erste hist.-vgl. Grammatik (1827 von F. Bopp rezensiert). Entdeckung der germanischen und hochdeutschen Lautverschiebung (Grimmsches Gesetz). Begründet die Germanistik.
1833-36August F. Pott, Etymologische Forschungen auf dem Gebiete der Indo-Germanischen Sprachen
1833-52F. Bopp, Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend,Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslawischen, Gotischen und Deutschen. Sprache als Organismus, dessen "physische und mechanische Gesetze" zu entdecken sind.
1836Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechtes. Vereinigung von Sprachphilosophie und vergleichender Sprachforschung. Begründung der energetischen Sprachwissenschaft; Sprache als kreative Tätigkeit. "Mentalismus".
1836-44Friedrich Diez, Grammatik der romanischen Sprachen. Begründet die Romanistik.
1848J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache
1850Heymann Steinthal, Classification der Sprachen, dargestellt als die Entwickelung der Sprachidee. 2. Aufl. 1860: Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues. 1893 von Franz Misteli überarbeitet.
1850August Schleicher, Linguistische Untersuchungen, Teil II: Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht. Sprache als Naturgegenstand, Linguistik als Naturwissenschaft, Sprachgeschichte als Evolution (Evolutionismus, Depravationstheorie).
1852Gründung der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung durch Adalbert Kuhn; erste linguistische Zeitschrift.
1852ffFranz Miklosich, Vergleichende Grammatik der slawischen Sprachen. Begründet die Slawistik.
1854ffJ. Grimm, Deutsches Wörterbuch (Abschluß 1961)
1856Karl Heyse, System der Sprachwissenschaft. Letzte allgemeine Grammatik auf philosophischer Grundlage.
1856Ernst W. von Brücke [Physiologe], Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute
1858-62Georg Curtius, Grundzüge der griechischen Etymologie. Unterscheidung von Lautgesetz und Analogie.
1861/2A. Schleicher, Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Neues Gewicht der Phonologie. Stammbaumtheorie, Rekonstruktion des Indogermanischen.
1867William D. Whitney, Language and its study. Befreiung der Sprachwissenschaft von der Philologie, vom Geschriebenen; Wendung zur gesprochenen Sprache.
1868Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache. Kausaler Determinismus verbindet sprachliche und nichtsprachliche Äußerungen eines Volks. Gesetzmäßigkeit des Lautwandels. Vorläufer der Junggrammatiker.
1871-1911Berthold Delbrück, Syntaktische Forschungen.
1871H. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft. 1. Teil: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft. Psychologische Begründung der Sprachwissenschaft (Anlehnung an Herbart).
1872Johannes Schmidt, Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen. Wellentheorie. Gegen die Junggrammatiker.
1875W.D. Whitney, Life and growth of language. Sprachwissenschaft ist eine Geschichtswissenschaft.
1876-95Junggrammatiker
1876Eduard Sievers, Grundzüge der Lautphysiologie, zur Einführung in das Studium der indogermanischen Sprachen
1876August Leskien formuliert die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.
1876Karl Verner, "Eine Ausnahme der ersten Lautverschiebung". Verners Gesetz.
1876Beginn der Dialektgeographie
1877Jan Baudouin de Courtenay formuliert den Begriff des Phonems auf funktioneller Basis.
1878K. Brugmann & H. Osthoff, Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, Bd.I. Junggrammatisches Manifest.
1879Ferdinand de Saussure, Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes. Anwendung strukturaler Prinzipien auf das rekonstruierte Vokalsystem. Begründet die Laryngaltheorie.
1880Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte. Systematische Darstellung und Kodifikation des junggrammatischen Ansatzes.
1880Konrad Duden (Gymnasialdirektor), Orthographisches Wörterbuch
1884-87Nikolai Kruszewski, "Prinzipien der Sprachentwicklung". Basiert auf der Assoziationspsychologie.
1885Philipp Wegener, Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens. Funktionelle Sprachtheorie; begründet die Sprachpsychologie.
1886-92K. Brugmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Standardwerk der Indogermanistik.
1889Schaffung des Internationalen Phonetischen Alphabets
1891Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. (2. Aufl. 1901) Erste umfassende Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft. Vorarbeit für wesentliche Einsichten von de Saussure.
1891J.W. Powell entwirft den ersten Stammbaum der nordamerikanischen Indianersprachen.
1892Begründung der Indogermanischen Forschungen durch K. Brugmann und Wilhelm Streitberg (gleichsam als offizielles Organ der Junggrammatik).
1893-1900B. Delbrück, Vergleichende Syntax der indogermanischen Sprachen. Standardwerk; bildet Bd.3 zu Brugmanns Grundriß.
1894John Ries, Was ist Syntax? Erste theoretische Reflexion über Syntax.
1897Michel Bréal, Essai de sémantique. Begründet die (historische) Semantik.
1898Theodor Siebs (Germanistikprofessor), Deutsche Bühnenaussprache. Übergewicht der norddeutschen Aussprache, bes. im Vokalismus.
1900-1920Linguistischer Idealismus. Sprache ist, wie Kunst, schöpferische Tätigkeit, also Gegenstand der Ästhetik. Bedeutende Rolle der Stilistik in der Sprachwissenschaft. Gegen Positivismus und materialistisch-mechanistische Geisteswissenschaft. Vertreter: Benedetto Croce, Karl Vossler, Hugo Schuchardt (Integration von Kultur- und Wortgeschichte ["Wörter und Sachen"], ganzheitlicher, subjektivistischer Sprachbegriff.
1902Benedetto Croce, Estetica come scienza dell'espressione e linguistica generale.
1904Karl Vossler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft
1907Antoine Meillet, Introduction à la grammaire comparative des langues indoeuropéennes.
1910Franz Nikolaus Finck, Die Haupttypen des Sprachbaus.
1916ffStrukturale Sprachwissenschaft.
In Europa i.w. durch de Saussure (1916), in Amerika durch Boas und Sapir (1921) begründet.
Hauptrichtungen in der Linguistik:
1. europäischer Strukturalismus:
Genfer Schule: F. de Saussure, Ch. Bally, A. Séchehaye.
Prager Schule: N.S. Trubetzkoy, R. Jakobson.
Kopenhagener Schule: V. Brøndal, L. Hjelmslev
`Pariser Schule': G. Guillaume, L. Tesnière, A. Martinet.
Der europäische Strukturalismus ist i.w. funktionalistisch-teleologisch, schließt also Funktion und Bedeutung ein.
2. amerikanischer Strukturalismus:
Yale University, New Haven, Conn.: E. Sapir, B.L. Whorf, L. Bloomfield.
Boston: Z.S. Harris.
Der amerikanische Strukturalismus ist i.w. distributionalistisch, mechanistisch, behavioristisch (also antimentalistisch), legt großen Wert auf Feldforschung und induktive Methode (Kombination mit Empirismus und Neopositivismus, taxonomischer Strukturalismus).
1911-38Franz Boas (ed.), Handbook of American Indian languages. Begründet den Strukturalismus anthropologischer Prägung in Amerika.
1914Leonard Bloomfield, Introduction to the study of languages. Auf Wundt gestützt.
1916Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Begründet die strukturale Sprachwissenschaft in Europa und zudem die Genfer Schule.
1917F. Boas gründet das International Journal of American Linguistics.
1921Edward Sapir, Language.
1924Gründung der Linguistic Society of America.
1925Gründung der Zeitschrift Language, Organ der LSA.
1926Vilém Mathesius begründet den Prager Linguistischen Kreis.
1926-1939Prager Schule: V. Matesius, N.S. Trubetzkoy, R. Jakobson.
1928N.S. Trubetzkoj, R. Jakobson und S. Karcevskij proklamieren auf dem 1. Internationalen Linguistenkongreß in Den Haag die Phonologie.
1932Alan H. Gardiner, Theory of speech and language.
1933Leonard Bloomfield, Language.. Kodifikation des amerikanischen Strukturalismus.
1933-1965Distributionalismus. Yale: L. Bloomfield; Boston: Z.S. Harris; Ch. Hockett; Tagmemik: K. Pike.
1934Karl Bühler, Sprachtheorie. Begründet die Sprachtheorie in der Sprechsituation.
1934K.L. Pike und E.A. Nida gründen das Summer Institute of Linguistics.
1936George K. Zipf, The psycho-biology of language. Begründet die Sprachstatistik.
1939Nikolaj S. Trubetzkoj, Grundzüge der Phonologie. Begründet die funktionell-strukturelle Phonologie.
1941Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Begründet die Markiertheitstheorie und die Rolle implikativer Gesetze in der Linguistik.
1943Louis Hjelmslev, Omkring sprogteoriens grundlaeggelse. Formalisiert die europäische Variante der strukturalen Sprachwissenschaft und begründet die Glossematik/Kopenhagener Schule.
1944Charles Bally, Linguistique générale et linguistique française.
1951R. Jakobson, C.Gunnar M. Fant & Morris Halle, Preliminaries to speech analysis. Einführung der Lehre von den phonologischen Merkmalen in die USA.
1951Zellig S. Harris, Methods in structural linguistics. Hauptwerk des Distributionalismums.
1953Yehoshua Bar-Hillel begründet die rekursive Definition.
1954Kenneth L. Pike, Language in relation to a unified theory of the structure of human human behavior. Begründet die Tagmemik.
1955André Martinet, Économie des changements phonétiques.
1956R. Jakobson & Morris Halle, Fundamentals of language. Theorie der distinktiven Merkmale.
1957Noam A. Chomsky, Syntactic structures.
1958Eugenio Coseriu, Sincronia, diacronía e historia. Fundamentales Werk der Sprachwandeltheorie.
1959Lucien Tesnière, Éléments de syntaxe structurale. Begründet die Dependenzgrammatik.
1960André Martinet, ºEléments de linguistique générale.
1961Michael A.K. Halliday, "Categories of the theory of grammar". Begründet die Systemik.
1962John L. Austin, How to do things with words. Begründet die Theorie der Sprechakte und die performative Analyse.
1962Leo Weisgerber, Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik. Hauptwerk der Sprachinhaltsforschung.
1962Sidney M. Lamb, Outline of stratificational grammar. Hauptwerk der Stratifikationsgrammatik.
1963Joseph Greenberg, "Some universals of grammar with particular reference to the order of meaningful elements". Begründet die empirische Universalienforschung.
1965N.A. Chomsky, Aspects of the theory of syntax. Etabliert die generative Transformationsgrammatik einschließlich nachfolgender Varianten.
1966Vladimir Skalička, "Ein `typologisches Konstrukt'". Sprachtyp als Menge von Gestaltungsprinzipien.
1966Joseph H. Greenberg, "Language universals". Umfassende Systematisierung der Markiertheitstheorie.
1968Charles J. Fillmore, "The case for case." Begründet die Kasusgrammatik.
1968John Lyons, Introduction to theoretical linguistics. Erfolgreichste Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft überhaupt.
1970Wallace L. Chafe, Meaning and the structure of language.
1970George Lakoff, Linguistics and natural logic. Hauptwerk der generativen Semantik.
1979R. Jakobson & Linda R. Waugh, The sound shape of language. Zusammenfassung der auditiv begründeten, funktionellen Phonologie.