Ein phonologischer Prozeß ist seiner Natur nach etwas Dynamisches. Bezogen auf eine synchrone Beschreibung, setzt er die Alternanten einer Variation zueinander in Beziehung. Bezogen auf die Diachronie, ist es ein Lautwandel. In einer Beschreibung kann man einen phonologischen Prozeß durch eine phonologische Regel repräsentieren. Als Beschreibungskonstrukt dient eine phonologische Regel dazu, den dynamischen Charakter einer phonologischen Alternation zu erfassen.

Das den folgenden Regelformulierungen zugrundeliegende Merkmalsystem und das Regelformat stammen i.w. aus Chomsky & Halle 1968. Bzgl. der Aktualität dieses Modells gilt das in Kap. 9.5 Gesagte.

Phonologisches Regelformat
AB/X_Y
Legende
A Input der Regel Bündel von Merkmal(swert)en, welches die Intension einer Klasse von Segmenten repräsentiert
"wird zu"
B Output der Regel Bündel von Merkmal(swert)en, die dem betroffenen Segment zuwachsen (ggf. anstelle der in A spezifizierten)
/"im Kontext"
X dem betroffenen Segment vorangehender Kontextwie A
_ SlotPosition des betroffenen Segments im Kontext
Y dem betroffenen Segment folgender Kontextwie A

Außerdem gelten die üblichen Konventionen für Symbole und Abkürzungen.

Zum Verständnis des Formalismus ist insbesondere hervorzuheben, daß an der Stelle von A nicht (notwendigerweise) diejenigen Merkmale stehen, welche durch die Regel geändert werden. Die Regel ist also nicht zu lesen “ersetze A durch B”, sondern “spezifiziere die durch A erfaßten Segmente i.S.v. B”.

Abgekürzte Notationen, in denen IPA-Symbole statt Merkmalbündeln verwendet werden, sind statthaft, wenn keine Generalisierung verlorengeht.

Die Art und Weise, wie Regeln Alternationen beschreiben, kann vorläufig durch eine Regel für die Allomorphie des englischen -s-Suffixes illustriert werden:

Englisch: Allomorphie des -s-Suffixes
R1. { /əz/[ + sibilant ] ___} pieces, bushes, ranges, hatches, houses, boxes
{-z}/s/ [ - sth ]___ hats, clicks,months, coughs
/z/sonst hands, toes, tags, wreaths, lives, bars, walls, pins

Der Input von R1 ist das Morphem {-z}; er ist daher in morphophonemischer Repräsentation notiert. Der Output sind die drei Allomorphe des Morphems, welche phonologisch konditioniert sind. Nach dem Pfeil sind drei Alternativen für den Output angegeben, für welche verschiedene Kontextbedingungen gelten. Die Alternativen werden von oben nach unten abgearbeitet in der Weise, wie ein Algorithmus eine 'IF ... THEN ... ELSE ... END IF'-Bedingung abarbeitet. Der letzte Kontext braucht daher nicht mehr spezifiziert zu werden.

Mit dieser Notation ist der beschreibungstheoretische Gedanke verbunden, der bereits bei der Besprechung des Basisallophons eingeführt worden war: In einer Alternation hängen alle Varianten bis auf eine von bestimmten Einzelbedingungen ab. Die letzte Variante tut das nicht, sondern ist der Default. Es ist freilich immer auch möglich, die für den Default verbleibenden Kontexte in Form von Bedingungen zu spezifizieren. Welche von den Varianten der Default ist, sieht man daran, für welche die Angabe von Bedingungen am kompliziertesten ist. Z.B. bilden die für das Basisallomorph des engl. -s-Suffixes verbleibenden Kontexte eine relativ heterogene Menge, die sich weniger leicht durch Generalisierung zusammenfassen läßt. Die beschreibungstheoretische Entscheidung, welche Variante der Default ist, bestimmt sich nach solchen formalen Rücksichten. Daneben kann es externe Evidenz (psycho-, soziolinguistischer oder historischer Art) geben.

Im Englischen gilt dieselbe Regel für das Suffix von Plural, Genitiv und 3. Sg. Dies zeigt, daß es keine morphologische, sondern eine phonologische Regel ist. Wir reformulieren sie daher wie folgt um:

Englisch: Allomorphie des -s-Suffixes als Nebenergebnis phonologischer Regeln
R1'.a. ə [ + sibilant ](#)__ [+ sibilant ]
 b. [- sonorant][ - sth ] [ - sth ](#)___

Die Reformulierung innerhalb der Phonologie setzt zwei unabhängige phonologische Prozesse an. Der erste ist Schwa-Insertion zwischen zwei Sibilanten. Der zweite ist eine Stimmhaftigkeitsassimilation, die jeden Obstruenten trifft, der in diese Position gelangt. Die dritte Zeile von R1 hat in R1' kein Gegenstück, denn es wird angenommen, daß die phonologischen Eigenschaften des Basisallomorphs in der zugrundeliegenden Repräsentation spezifiziert sind und - außer wo R1' angewandt wird - unverändert in der phonetischen Repräsentation erscheinen.

R1' ist nicht deutlich eleganter als R1, aber es ist erstens allgemeiner, denn es involviert die (falsifizierbare) empirische Hypothese, daß - über das -s-Suffix hinaus - jegliche phonologische Konfigurationen der spezifizierten Art betroffen sind. Zweitens ist es aussagekräftiger, denn man erkennt an der Formulierung, daß es sich um zwei unabhängige Prozesse, eine Dissimilation und eine Assmilation (s.u.), handelt, was man an R1 nicht sieht.

Phonologische Prozesse haben als Input und Output Merkmalsrepräsentationen, so wie in dem obigen allgemeinen Regelformat eingeführt. Symbole für Segmente sind nur als konventionelle Abkürzungen zulässig. Darüberhinaus ist eine phonologische Regel Teil eines Regelapparats, der morphophonemische Repräsentationen schrittweise in (systematisch-)phonetische überführt. Die Regeln operieren im Prinzip auf intermediären Repräsentationen. Näheres dazu unter Regelordnung.

Um es noch einmal klarzustellen: Eine phonologische Regel ist – ebenso wie alternative phonologische Beschreibungsmittel wie Filter, Beschränkungen usw. und analog zu entsprechenden Beschreibungsmitteln in anderen Komponenten der Grammatik – ein Konstrukt einer kohärenten Beschreibung eines Teils des Sprachsystems. Sie ist nicht – oder bestenfalls höchst mittelbar – eine Regel, die Menschen beim Sprechen befolgen, etwa so wie ein Schreiber eine Regel des Dudens befolgen kann. Sie wird nicht unmittelbar und isoliert empirisch überprüft. Empirisch überprüft werden kann nur die systematisch-phonetische Repräsentation, an deren Erzeugung sie mitwirkt (s. den Abschnitt zur phonetischen Aktualisierung). Die Aufgabe der Sprachbeschreibung ist es, diese Repräsentation auf die einfachst mögliche Weise zu erzeugen. Alles, was in diesem Skript über phonologische Regeln und ähnliche Konstrukte gesagt wird, muß sich daher an zwei Anforderungen messen: in erster Linie an empirischer Adäquatheit, in zweiter an Einfachheit (Allgemeinheit, Eleganz).