Die Rolle eines Partizipanten gegenüber dem Situationskern heißt semantische Rolle oder Partizipantenrolle oder ‘thematische Rolle’. Die folgende Tabelle charakterisiert die wichtigsten Partizipantenrollen informell.
Rolle | Erläuterung | Beispiel |
Agens | wer die Situation kontrolliert | Erna repariert das Fahrrad |
Patiens | wer/was durch die Situation affiziert wird | Erna repariert das Fahrrad. |
Rezipient | wer einen transferierten Gegenstand empfängt | Erna überreichte Erwin einen Pilz |
Adressat | an wen ein Kommunikationsakt gerichtet ist | Erna sprach Erwin ihr Vertrauen aus |
Experiens | wer einen Sinneseindruck oder ein Gefühl wahrnimmt | Erna tut der Zahn weh |
Komitativ | wer einen anderen Partizipanten begleitet | Erna löste die Aufgabe mit Erwin |
Instrument | was vom Agens benutzt wird | Erna löste die Aufgabe mit dem Skalpell |
Locus | wo die Situation stattfindet | Erna studiert in Erfurt |
Ursprung | wo eine Bewegung anfängt | Erna reiste aus Tokyo an |
Ziel | wohin eine Bewegung gerichtet ist | Erna reiste nach Erfurt |
Thema | wovon eine kognitive/ kommunikative/ emotionale Situation handelt | Erna bedauerte das Mißgeschick |
Benefiziär | wer von der Situation profitiert | Erna kaufte ihrer Tochter eine Puppe |
In den Erläuterungen der Partizipantenrollen kommen solche Begriffe wie ‘Transfer’, ‘Kommunikationsakt’, ‘Sinneseindruck’, ‘Bewegung’ vor. Diese bezeichnen spezifischere Typen von Situationen. Partizipantentrollen sind also keine elementaren Begriffe, aus denen man Begriffe von Situationen zusammensetzen könnte; vielmehr werden sie in ganzheitlicher Weise auf der Basis von Situationstypen konzipiert.
Partizipantenrollen sind jedenfalls relationale Begriffe und daher in erster Linie durch relationale Kriterien zu beschreiben. Das sind die Kriterien der Zentralität und der Kontrolle eines Partizipanten.
Die Rolle eines Partizipanten hängt aber auch eng mit seinen Eigenschaften zusammen, weil die Relationen, die etwas eingehen kann, grundsätzlich von seinen Eigenschaften beschränkt werden. Die wichtigste Eigenschaft, durch die Partizipanten sich unterscheiden, ist ihre Empathie. Die Agensrolle in einem Satz wie könnte z.B. von ‘Erwin’ ebensowohl wie von ‘Erna’, nicht jedoch vom ‘Pilz’ eingenommen werden, denn unbelebte Gegenstände agieren nicht.
. | Erna überreichte Erwin einen Pilz. |
Die folgende Tabelle charakterisiert die wichtigsten Partizipantenrollen durch die drei genannten Parameter: Empathie, Zentralität, Kontrolle.
role | empathy | involvement | control | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
agent | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 1 | 1 |
force | 1 | 1 | |||||||
comitative | -1 | 0 | |||||||
instrument | -1 | 0 | |||||||
experiencer | 0 | 0 | |||||||
emitter | 0 | 0 | |||||||
source | 0 | 0 | |||||||
recipient/addressee | 0 | 0 | |||||||
goal | 0 | 0 | |||||||
sympatheticus | 1 | -1 | |||||||
patient | 1 | -1 | |||||||
beneficiary | -1 | 0 | |||||||
place | -1 | 0 | |||||||
theme | 1 | 0 |
|
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|
Wie in dem Abschnitt zur Wortfeldanalyse erläutert, ergeben sich hier semantische Minimalpaare. Insbesondere unterscheiden sich in mehreren Fällen zwei Rollen nur durch den Empathiegrad; so etwa Agens vs. Force, Komitativ vs. Instrumental, Emittent vs. Ursprung, Rezipient/Adressat vs. Ziel und Sympatheticus vs. Patiens. Vor allem aber ist festzustellen, daß einige Rollen durch diese Merkmalsanalyse noch nicht voneinander unterschieden sind: Experiens, Emittent, Rezipient und Adressat haben dieselbe Merkmalspezifikation; und dito Locus, Ursprung und Ziel. Die Tabelle würde also nicht zur Definition der Rollen hinreichen. Vielmehr ist daran zu erinnern, daß die Rollen ganzheitlich auf der Basis von Situationstypen konzipiert werden. Z.B. setzt ein Experiens einen Situationskern voraus, der ein Sinneseindruck ist, Emittent und Rezipient einen Situationskern, der ein Transfer ist, und Adressat einen Kommunikationsakt.
Die semantischen Rollen sind syntagmatische Funktionen sprachlicher Einheiten, die neben zwei gleichartigen Funktionen stehen und begrifflich von diesen zu unterscheiden sind:
Somit hat ein gegebener nominaler Ausdruck Funktionen auf allen drei Ebenen. Die Partizipantenrollen sind, wie gesagt, sprachliche Konzepte, aber sie sind rein semantisch und daher mit syntaktischen Funktionen nicht identisch. Vielmehr besteht zwischen den beiden Arten von Konzepten dieselbe Art multipler Zuordnung, wie sie immer zwischen sprachlichen Ausdrücken und Konzepten besteht. Mehr dazu in dem diesbezüglichen Abschnitt.
Neben der Partizipation steht die Possession mit ihren beiden konstitutiven Komponenten, dem Possessor und dem Possessum. Diese beiden sind völlig analog den Partizipanten einer Situation und haben enge Beziehungen zu diesen. Z.B. kann der in der Tabelle aufgeführte Sympatheticus immer auch als Possessor konzipiert werden. Alles weitere im Abschnitt zur Possession.
Nach den beiden Parametern der Zentralität und Kontrolle lassen sich semantische Rollen wie folgt in einem zweidimensionalen Raum anordnen:
Kontrolle | ← | ― | → | Affiziertheit | ||
Actor | Undergoer | |||||
zentral | Agens | Force | Thema | Patiens | ||
---|---|---|---|---|---|---|
↑ | Experiens | |||||
| | Rezipient/Adressat/Ziel | |||||
| | Emittent/Ursprung | |||||
↓ | Benefiziär/Ort | |||||
peripher | Komitativ/Instrument |
Auf der vertikalen Achse variieren die Rollen nach dem Grade der Zentralität des Partizipanten in der Situation. Am oberen Pol stehen die unmittelbar beteiligten Partizipanten. Sie inhärieren der Situation, d.h. sie gehören zu deren Begriff (im Sinne semantischer Relationalität). Am unteren Pol stehen die peripheren Partizipanten, welche zu einer gegebenen Situation relativ frei hinzutreten, an deren Begriff nichts ändern und mit vielen Situationstypen in immer gleicher Weise kombinierbar sind.
Am Pol der maximalen Zentralität herrscht eine weitere Differenzierung nach dem Kontrollgefälle, das normalerweise zwischen zwei zentralen Partizipanten besteht: der eine kontrolliert die Situation, der andere ist von ihr betroffen (affiziert). Eine schematische binäre Unterteilung dieses Parameters ergibt die beiden Makrorollen ‘Actor’ und ‘Undergoer’. Deren prototypische Ausprägungen sind Agens bzw. Patiens.
Der Parameter der Kontrolle vs. Affiziertheit wird mit abnehmender Zentralität der Partizipanten irrelevant. An seine Stelle treten semantisch spezifische Weisen der Beteiligung, die mit Bezug auf spezifische Situationstypen konzipiert sind und durch ein eigenes elementares Prädikat (wie ‘geben’, ‘begleiten’, ‘benutzen’) explizit gemacht werden können (s. Lehmann 2007).
Die Tabellen und Schaubilder, die die semantischen Rollen wiedergeben,
könnten zu der Annahme verleiten, dies wären absolute Begriffe. Tatsächlich sind es aber Relationen zwischen Partizipanten und einer Situation. So läßt
sich der Begriff sieht (x, y)
zwar vielleicht wie folgt
analysieren:
(∃e) (perzipier (e) & Experiens (e) = x & Thema (e) = y & Instrument (e) = Auge(x)
(“Es gibt ein Ereignis e
derart, daß e
ein Fall von Perzipieren ist, daß x
das Experiens von e
,
y
das Thema von e
und die Augen von x
das Instrument von e
sind.”)
In dieser (an der Ereignissemantik inspirierten) Darstellung ist aber die Relationalität nur versteckt; denn die semantischen Rollen vom Typ Experiens usw. sind eigentlich zweiwertige Prädikate, die hier nur in Funktionen eines ihrer Argumente konvertiert sind, welche mithilfe des Gleichheitszeichens dem anderen Argument zugesprochen werden. M.a.W., durch einen formalen Trick sind hier alle Relationen auf eine einzige, die Gleichsetzung, zurückgeführt. Angemessener wäre wie folgt zu notieren:
x sieht y: | (∃e) perzipier(e) & Experiens (x, e) & Thema (y, e) & Instrument (Auge (x), e) |
Diese Notation bringt zum Ausdruck, daß eine semantische Rolle wie Experiens eine Relation zwischen einem Situationskern (e
) und einem Partizipanten (x
) ist.