Artikulatorische Phonetik ist, aus anderer disziplinärer Perspektive, Anatomie und Physiologie der Rede. Dieses Kapitel befaßt sich daher mit den Sprechorganen und ihrer Funktionsweise.
Der umfassendste Begriff in diesem Zusammenhang ist der des Vokaltrakts. Das ist die organische Konfiguration von den Lungen bis zu den Lippen, insoweit sie dem Sprechen dient. Im folgenden geht es um seine Zusammensetzung.
Im Vokaltrakt kommen folgende Gewebearten vor:
Das Nervensystem besteht aus:
Das Zentrale Nervensystem (ZNS) beginnt im Rückenmark. Seine obere Verlängerung ist der Hirnstamm, der die Nuklei der Hirnnerven enthält. Dahinter liegt das Kleinhirn, mit der Funktion der präzisen motorischen Koordination. Über dem Hirnstamm liegen die beiden Hirnhemisphären, wo die meisten Sprachfunktionen angesiedelt sind. Sie sind von Geburt an lateralisiert; die Lateralisierung bildet sich bis zur Pubertät vollständig heraus.
Das periphere Nervensystem gliedert sich wie folgt:
Neuron: Funktionseinheit des ZNS, besteht aus einer Nervenzelle und ihren Extensionen. Die letzteren sind Axonen und Dendriten. Auf ihnen sitzen Synapsen, Verbindungen zu anderen Nervenzellen. Durch sie werden Impulse geleitet. Oberhalb ihres Schwellwertes an Eingangsfrequenz feuert eine Synapse, darunter feuert sie nicht. Die Stärke eines Reizes wird von der Anzahl der aktivierten Synapsen bestimmt. Einige Synapsen inhibieren auch.
Bei der Redeerzeugung wird die zu übermittelnde Bedeutung in Significantia von Sprachzeichen kodiert. Am Ende der Planungsphase wird eine Ausgabekette, d.i. die Folge von Significantia, aus denen die Nachricht besteht, zusammengesetzt und in einem Ausgabepuffer (allgemein: im Kurzzeitgedächtnis) zwischengespeichert. Die Ausführung besteht nun darin, daß eine Ablesevorrichtung von links nach rechts über diese Kette läuft. Sie liest die als diskrete, und zwar als phonologische Information repräsentierten Einheiten und wandelt sie nach Prinzipien der paradigmatischen und syntagmatischen Variation in phonetische Einheiten: Atemgruppen, Silben, Phone, Suprasegmentalia. Die Einheiten dieser Kette haben den Charakter von auditiven Targets, d.h. sie repräsentieren Sinneseindrücke, die im Ohr des Hörers erreicht werden sollen. Diese auditiven Targets müssen umgesetzt werden in Artikulationsbewegungen, durch welche sie erreicht werden. Die so gewandelte Kette wird nun durch die Hirnnerven an die Artikulationsmuskulatur geschickt. Dazu wird die vom Hirn zur Verfügung gestellte diskrete Information in kontinuierliche gewandelt.
Die Muskeln des Brustkorbs gestatten dessen Ausdehnung und Zusammensinken bzw. Kontraktion und damit dasselbe für die Lunge. Bei Kontraktion der Lungen, d.h. beim Ausatmen, entsteht Überdruck, insbesondere unter dem Kehlkopf.
Der Artikulationsapparat ist der Teil des Vokaltraktes, der den erzeugten Laut artikuliert (vgl. unten wg. Erzeugung vs. Artikulation des Lauts). Das ist also der Teil vom Kehlkopf an aufwärts. Im folgenden Schaubild sind zusätzlich noch Luft- und Speiseröhre enthalten.
Der Kehlkopf (der Larynx) ist das wichtigste Organ zur Erzeugung von Sprachlauten. Seine Struktur ist im folgenden dargestellt:
Das wichtigste Organ im Kehlkopf sind die Stimmbänder = Stimmlippen, die zwischen sich die Stimmritze = Glottis bilden.
Die (evolutiv) vorsprachlichen Funktionen des Kehlkopfes sind:
Die sprachlichen Funktionen des Kehlkopfes sind die folgenden:
Der Rachen bildet den größten Resonanzraum. Im Rachen ist Friktion, aber kein vollständiger Verschluß möglich.
Die Nasenhöhle bildet einen weiteren Resonanzraum. Bei normalem Atmen ist die Ruheposition des Velums (inkl. Zäpfchen) gesenkt, so daß man durch Mund und Nase atmet. Beim Sprechen allerdings ist die normale Position in allen Sprachen die angehobene. Das hat einen doppelten Zweck:
Die Mundhöhle bildet einen weiteren Resonanzraum. Gleichzeitig befinden sich dort die meisten Artikulationspunkte.
Die Zunge ist der wichtigste bewegliche Artikulator. Sie ist in die folgenden Abschnitte gegliedert:
Terminus | Verdeutschung | Bemerkung |
---|---|---|
Apex | Zungenspitze i.e.S. | absolute Spitze |
Korona | Zungenspitze i.w.S. | einschließlich des sie umgebenden Zungenrandes |
Lamina | Zungenblatt | nicht angewachsener Teil ohne Spitze |
Dorsum | Zungenrücken | unter dem weichen Gaumen |
Radix | Zungenwurzel | im Rachen |
Die lateinischen Bezeichnungen liegen den Adjektiven zugrunde, welche die so gebildeten Laute kategorisieren.
Zwischen der Korona und den Alveolen wird bei einigen Lauten ein kleiner zusätzlicher Resonanzraum gebildet.
Die Lippen bilden ebenfalls sowohl einen Resonanzraum (nämlich zwischen Zähnen und Lippen) als auch Artikulatoren. Genau genommen ist die Oberlippe Artikulationspunkt, die Unterlippe Artikulator.
Die Bewegung des Unterkiefers ist streng genommen zur Artikulation nicht nötig, sie verstärkt jedoch die Bewegungen der Artikulatoren.
Wie jeder andere Schall wird auch ein Sprachlaut zunächst durch eine Schallquelle erzeugt, dann durch Resonatoren modifiziert. Der erste Vorgang heißt phonetische Schallerzeugung, der zweite Artikulation.
Phonation
ist die Schallerzeugung durch den Kehlkopf (die Stimme). Sie ergibt periodische Schwingungen, also einen Ton/Klang.
Daneben steht die Schallerzeugung durch Turbulenz, die ihrerseits durch Konstriktion i.e.S. erzeugt wird. Konstriktion i.e.S. ist die Verengung einer Passage, durch die das Schallmedium gezwungen wird (Näheres s.u.). Sie ergibt aperiodische Schwingungen, also ein Geräusch. Diese Schallerzeugung erlaubt es übrigens auch, beim Flüstern die Vokale zu unterscheiden.
Die beiden Arten der phonetischen Schallerzeugung sind unabhängig voneinander und frei kombinierbar:
Turbulenz Phonation ╲ |
an | aus |
an | stimmhafte Konsonanten | Vokale |
---|---|---|
aus | stimmlose Konsonanten | (Atmung) |
Für stimmlose Laute (außer [h]) ist also nicht der Kehlkopf die Schallquelle.
Artikulation besteht in Bewegungen, die über die Schallerzeugung gelegt werden, akustisch also in Modifikationen des Stimmklangs durch Veränderung der Resonanzräume:
Die Artikulation wird mit zwei Hauptparametern und einigen untergeordneten beschrieben. Die beiden Hauptparameter sind:
Traditionell unterscheidet man zwischen Artikulationsstelle und Artikulationsart. Unter 'Artikulationsart' begreift man allerdings nicht nur die Konstriktion und die untergeordneten Parameter der Artikulation, sondern auch die Phonationsart. Dieser traditionelle Begriff ist also heterogen.
Ferner können Artikulationen einfach oder komplex sein. Im folgenden ist zunächst nur von einfachen Artikulationen die Rede; von den komplexen handelt Kap. 4.7.
Die Eigenschaften einer Stimme werden durch die Glottis/Phonation und durch die Resonanzräume/Artikulation, und zwar durch ihre physikalische Beschaffenheit, durch Gewohnheiten und durch die aktuellen Einstellungen, geprägt.
Tonhöhe: Die jeweilige Stimmhöhe bestimmt sich durch die Grundfrequenz, mit der gesprochen wird. Diese wiederum wird durch höheren subglottalen Druck sowie Anspannung der Stimmbänder gehoben.
Stimmhöhe: Die habituelle Stimmhöhe kann definiert werden als durchschnittliche Grundfrequenz der artikulierten Laute. Sie wird determiniert durch die Anatomie des Artikulationsapparates.
Stimmqualität: hängt auch an Sprechgewohnheiten. Z.B.:
Einige von diesen Stimmeigenschaften können auch kontrolliert und also phonologisch eingesetzt werden; s. Kap. 4.5.1 zu den Phonationsarten.
Zur Schallerzeugung wird in jedem Falle ein Luftstrom benötigt, der durch den Vokaltrakt geschoben wird und der letztlich in die Schwingungen des Mediums übergeht. Dieser Luftstrom kann allerdings auf verschiedene Weise erzeugt werden:
Der pulmonische Strom ist egressiv oder ingressiv. Nur der egressive Strom wird phonetisch genutzt. In allen Sprachen ist dies der wichtigste und in vielen der einzige genutzte Luftstrom.
Der glottale Luftstrom wird auch pharyngal genannt. Er wird kontrolliert durch Auf- und Abbewegung des Kehlkopfes. Diese funktioniert wie ein Kolben im Zylinder. Die Aufwärtsbewegung erzeugt egressiven, die Abwärtsbewegung ingressiven glottalen Luftstrom. Er kann, im Gegensatz zum pulmonischen Strom, nur für einzelne Laute genutzt werden.
Bei der Abwärtsbewegung des Kehlkopfes ist es schwieriger, die Glottis geschlossen zu halten, so daß es zu unwillkürlicher Stimmgebung kommt. Deshalb ist der ingressive glottale Luftstrom auch weniger effizient als der egressive.
Es wird ein Verschluß am Velum und gleichzeitig eine gewöhnliche Artikulationsstelle davor gebildet. Dadurch wird ingressiver Luftstrom erzeugt (egressiver wird phonetisch nicht genutzt).
Klicklaut (auch Schnalzlaut): Konsonant, der durch velaren Luftstrom erzeugt wird. Die Artikulationsstelle kann zwischen labial und palatal sein. Es gibt auch nasale Klicks.
Der Ausdruck Artikulationsart ist, wie gesagt, ungenau und nicht wohl definiert, weil er verschiedene phonetischen Modifikationen zusammenfaßt, die nur das gemeinsam haben, daß sie nicht die Artikulationsstelle betreffen. Er wird hier nur erwähnt, weil er traditionell ist.
Die wichtigsten Artikulationsarten sind in der folgenden Tabelle zusammengefaßt und werden danach einzeln besprochen.
Wenn die in Kap. 4.3 besprochenen Eigenschaften der Stimme sprachlich eingesetzt werden, sind es Phonationsarten (Kehlkopftätigkeiten). Von den möglichen Phonationsarten sind fünf wichtig:
Die Stimmbänder sind auseinander und entspannt, die Stimmritze ist offen wie bei gewöhnlichem Atmen. Stimmlosigkeit ist in zahlreichen Sprachen für Konsonanten, in manchen auch für Vokale distinktiv.
Die Stimmritze wird halb durch die lateralen Ringmuskeln zusammengehalten, halb durch die hinteren Ringmuskeln auseinandergehalten. Dies führt zu hoher Turbulenz, die als Schallquelle dient und dann wie üblich durch die Resonanzräume modifiziert wird. Daher reicht relativ geringer Luftstrom aus. Andererseits muß die Glottis angespannt werden. Dies ist ziemlich genau die Artikulationsstellung für [h].
Diese Phonationsart ist kein distinktives Merkmal in irgendeiner Sprache, also insoweit "nichtsprachlich".
Die Glottis wird beim Vibrieren nicht ganz geschlossen, sondern ist an den Arytenoiden (Stellknorpeln) etwas offen.
Diese Phonationsart gibt's als distinktives Merkmal für stimmhafte Konsonanten und Vokale in Südostasien.
Spannung der Stimmbänder liegt auf einem Kontinuum zwischen hauchiger und Krächzstimme. Die Stimmbänder vibrieren.
Wenn man [sː] vs. [zː] macht, kann man den Unterschied mit dem Finger am Kehlkopf fühlen.
Stimmhaftigkeit ist normales (aber nicht notwendiges!) Merkmal für Vokale, Liquiden, Nasale.
Stimmhaftigkeit ist als unabhängige Artikulationsbewegung in bezug auf die anderen Artikulationen zu attemporieren. Wichtig ist insbesondere der Stimmeinsatzpunkt im Verhältnis zur Verschlußlösung (engl. voice onset delay “Stimmeinsatzverzug”). Das Schema stellt den zeitlichen Ablauf der Artikulation eines Konsonanten (Beispiel: bilabialer Plosiv) zwischen zwei anderen Segmenten (z.B. in [spa]) dar:
Zeit | → | |||||||
Verschlußlösung | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Stimmeinsatz | ||||||||
Stimmhaftigkeit | voll stimmhaft |
teilweise stimmhaft |
stimmlos unaspiriert |
stimmlos aspiriert | ||||
bilabiales Beispiel | b | b̥ | p | pʰ | ||||
französische Opposition | ||||||||
deutsche Opposition |
Dieser Parameter ist per definitionem kontinuierlich. Auf dem Kontinuum wählt jede Sprache die für ihr System relevanten (distinktiven) Kategorien. Unterschiede in akustischen Eigenschaften von Sprachlauten, welche an der kategorialen Grenze liegen, werden von Sprechern der Sprache wahrgenommen. Ebenso große akustische Unterschiede, die innerhalb der Bandbreite einer einzigen Kategorie liegen, werden (ohne phonetische Schulung) nicht wahrgenommen.
Auch Laryngalisierung. Stimmbänder vibrieren mit niedriger Frequenz. Arytenoiden werden festgehalten, nur der vordere Teil der Stimmbänder schwingt.
Es gibt auch stimmhafte und hauchige Krächzstimme.
Die Konstriktion (“Verengung”) i.w.S. eines Lauts ist sein Verschluß- vs. Öffnungsgrad. Vereinfacht gesagt, ist es die Entfernung von Artikulator und Artikulationspunkt (s. Artikulationsstelle). Der Konstriktionsgrad ist in allen Sprachen distinktiv. Konstriktion erzeugt bis zu den Liquiden einschließlich Turbulenz. Bis hierhin gehen die konsonantischen Artikulationsarten; sie haben Konstriktion i.e.S. Geringere Konstriktion (von den Approximanten an) erzeugt keine Turbulenz. Die Approximanten sind eine Übergangskategorie. Noch geringere Konstriktion ergibt vokalische Artikulationsarten.
Wie in § 4.2 gesehen, hat die Konstriktion zwei Funktionen:
Die in Kap. 4.1.7 eingeführte Senkung des Velums kann im Prinzip zu allen Sprachlauten hinzutreten und schafft insoweit eine komplexe Artikulation, die simultan oder transitional sein kann. Tatsächlich sind aber normalerweise nur Okklusive und Vokale nasal.
Die Sonorität (dt. Schallfülle) eines Lauts ist seine akustische Energie relativ zum artikulatorischen Aufwand. Ein sonorer Laut ist also einer mit hoher akustischer Energie gemessen an dem nötigen Produktionsaufwand, bei Konstanthaltung von Länge, Akzent und Höhe (Ladefoged 1975:219, Clark & Yallop 1995:61). Die Sonorität ist, wie das Schema zeigt, im Prinzip umgekehrt proportional zur Konstriktion i.w.S.
Die Korrelation gilt in dieser regelmäßigen Weise für die stimmhaften oralen Laute.
Sonorität verleiht einem Laut Prominenz im Syntagma.
Eine Artikulationsstelle ist eine Kombination eines (festen) Artikulationspunkts mit einem (beweglichen) Artikulator. Die beiden folgenden Übersichten stellen die Artikulationsstellen von vorn nach hinten dar. Hier werden nur die einfachen Artikulationsstellen erwähnt. Für die komplexen s. den folgenden Abschnitt.
Für komplexe Artikulationen sind folgende drei Unterscheidungen relevant:
Komplexe Artikulationen werden in Kap. 5 und 6 für Vokale und Konsonanten getrennt behandelt.
Koartikulation ist das Ineinander-Übergehen der Artikulation syntagmatisch benachbarter Laute. Trägheit führt zu 'target undershot' sowie Verzug. Auch dessen Gegenteil, Antizipation, ist wichtig. Daher gibt es antizipative und perseverative Koartikulation. Es gibt z.B. keine einheitliche Bewegung zur Artikulation eines [e]. Wenn dem [e] ein [t] vorangeht, ist die Bewegung eine völlig andere, als wenn ein [k] vorangeht. In diesem Sinne gibt es keinen Gegensatz zwischen (reiner) Artikulation und Koartikulation, sondern überhaupt nur Koartikulation.
Koartikulation ist die phonetische Basis vieler, vor allem assimilatorischer, phonologischer Prozesse; s. Kap. 10.1.
Kombinieren Sie die verschiedenen Komponenten der Phonation und Artikulation in verschiedenen Reihenfolgen. Artikulieren Sie ohne abzusetzen:
usw.