Das Sprachsystem besteht aus Einheiten und deren Relationen zueinander. Innerhalb jedes Subsystems sind, wie zuvor dargestellt, zunächst die funktionalen Einheiten zu identifizieren. Sodann interessiert vor allem die interne Struktur der Paradigmen, die sie miteinander bilden. Jede durch ein einfaches Merkmal beschreibbare phonologische Opposition läßt sich nach einer Reihe von Kriterien klassifizieren, die auf einen Vorschlag von N. Trubetzkoy zurückgehen, von dem die folgende Tabelle das Wichtigste enthält:
Kriterium | Eigenschaft | Beispiel | Eigenschaft | Beispiel |
Beziehung zu Oppositionssystem | mehrdimensional | d : b | eindimensional | t : d |
---|---|---|---|---|
isoliert | r : l | proportional | k : x = p : ɸ | |
Beziehung zw. Oppositionsgliedern | graduell | ɛ : e : i | binär | e : ø |
Symmetrie | äquipollent | r : l | privativ | t : d |
(Beispiele aus dem deutschen Phonemsystem)
Hiernach ist z.B. die zwischen /t/ und /d/ im Deutschen bestehende Opposition, welche durch das Merkmal [± stimmhaft] beschrieben werden kann, eine eindimensionale, proportionale, binäre, privative Opposition.
Ein Paradigma kann - z.B. aufgrund von mehrdimensionalen und/oder graduellen Oppositionen - mehr als zwei Elemente umfassen. Umfaßt ein Paradigma oder eine Kategorie genau zwei Elemente (z.B. glottale Konsonanten im Deutschen), so sind sie bzw. das Kriterium, das die beiden Elemente unterscheidet, binär. Umfaßt das Paradigma mehr, ist es ternär (z.B. lange gespreizte vordere Vokale im Hochdeutschen), quaternär usw. Umfaßt es weniger, ist es unär (z.B. zentrale Vokale im Deutschen).
Ein Syntagma kann durch Kombination von genau zwei Komponenten entstehen und ist dann binär (z.B. ein Diphthong). Es kann auch ternär sein (z.B. ein Triphthong) oder unär (z.B. eine Silbe, die nur aus einem Vokal besteht).
Binarismus ist der theoretische Grundsatz, daß alle Paradigmen und alle Syntagmen binär strukturiert sind, und die mit ihm verbundene Methode, scheinbar komplexere Paradigmen und Syntagmen auf binäre zurückzuführen. Dazu muß man den Komplex schrittweise in eine hierarchische Struktur von Einheiten analysieren, deren jede aus zwei Komponenten besteht, und muß die angesetzten intermediären Einheiten motivieren. In vielen Fällen ist das wohlbegründet und gar die beste Analyse.
Z.B. gibt es in unbetonten russischen Silben drei Vokale, /a, i, u/. Diese zerfallen aber nach phonologischen Kriterien in vordere und hintere, so daß dieses Paradigma eine klare binäre Struktur hat:
unbetonte Vokale | ||
vordere | hintere | |
geschlossene | offene | |
i | u | a |
In dem italienischen Wort aiuola “Beet” scheint ein Tetrapthong aufzutreten. Das Syntagma kann jedoch wie folgt binär analysiert werden:
Σ1 | Σ2 | Σ3 | ||||
Ansatz | Reim | Ansatz | Reim | Ansatz | Reim | |
a | j | u | o | l | a |
Unter der Voraussetzung, daß die in der Analyse vorausgesetzten Konstrukte wie Silbe (Σ), Ansatz und Reim gerechtfertigt sind (s. dazu Kap. 14.2), enthält das Wort also lediglich einen Diphthongen, /uo/.
Die Eigenschaften ‘binär’, ‘ternär’ usw. kommen auch Merkmalen zu. Damit ist dann gemeint, daß das Merkmal zwei bzw. drei Werte hat. Viele phonologische Theorien rechnen mit binären Merkmalen.
Die Einheiten einer privativen Opposition stehen in einer Markiertheitsbeziehung zueinander.
Notation: m = markiert, u = unmarkiert.
Die Kriterien 2 - 6 folgen mittelbar oder unmittelbar aus Kriterium 1, welches auf der Ebene der Phonetik das definitorische ist.
Jakobson (1941) stellt fest, daß Subsysteme von Sprachen, insbesondere Lautsysteme, wie folgt aufgebaut sind: Von jeder (durch An- vs. Abwesenheit eines bestimmten Merkmals konstituierten) privativen Opposition ist das markierte Element nur dann im System, wenn auch das unmarkierte vorhanden ist. Das bedeutet:
Die privativen Oppositionen sind in diesem Sinne einseitig (nämlich auf dem unmarkierten Glied) fundiert.
In einer gegebenen privativen Opposition sind die Werte 'markiert' und 'unmarkiert' den Gliedern nicht ein für allemal zugewiesen, sondern sie kommen ihnen in Abhängigkeit vom Kontext zu:
In Sonoranten ist [+ stimmhaft] = [u stimmhaft], in Obstruenten ist es umgekehrt.
In hinteren Vokalen ist [+ rund] = [u rund]; in vorderen Vokalen ist es umgekehrt.
In diesen beiden Beispielen beschränkt sich der Begriff des Kontextes auf die anderen Merkmale desselben Segments. Aber auch die syntagmatische Struktur kann an einer gegebenen Position das eine Segment markiert, das andere unmarkiert erscheinen lassen. Mehr dazu in Kap. 14.
Markiertheitsumkehrung ist die Umkehrung der Markiertheitswerte einer Opposition in einem gegebenen Kontext im Vergleich zu einem (ggf. als allgemeiner zugrundegelegten) Vergleichskontext.
Es ist nicht ganz klar, ob kontextabhängige Markiertheit immer mit der definitorischen Bedingung Nr. 1 oben verträglich ist.
Beim Aufbau vieler Konsonantensysteme spielt Symmetrie eine Rolle (Clark & Yallop 1995:101). Z.B. entspricht jedem stimmhaften Obstruenten im Deutschen ein stimmloser mit derselben Artikulationsstelle, jeder Affrikata entspricht ein Frikativ mit derselben Artikulationsstelle, usw. Allerdings ist Symmetrie vor allem in äquipollenten Oppositionen zu erwarten. In privativen Oppositionen waltet das Kompensationsprinzip, so daß unmarkierte Konsonanten häufig keine markierte Entsprechung haben.
Entgegen dem Symmetrieprinzip gibt es häufig Lücken im System (Clark & Yallop 1995:102). Z.B. hat Yukatekisches Maya die stimmlosen Plosive /p/, /t/, /k/, von den stimmhaften Plosiven jedoch nur /b/; /d/ und /g/ kommen ausschließlich in spanischen Fremdwörtern vor.
Frikative sind gegenüber Plosiven markiert. Jaminjung (Australien) hat keine Frikative; Sibilanten in engl. Lehnwörtern werden dort als [ɟ] wiedergegeben.
Allerdings liefert das Kompensationsprinzip für diese Opposition kein eindeutiges Ergebnis. Es gibt durchaus Sprachen wie Arabisch, Swahili und Deutsch, deren Frikative mehr Artikulationsstellen haben als die Plosive. Phonetisch ist das nicht schwer zu erklären; phonologisch ist es problematisch.
Bezüglich der Artikulationsstellen herrscht das Prinzip, daß der verfügbare Raum gleichmäßig ausgenutzt wird, daß also die Abstände zwischen den Konsonanten möglich maximiert werden. So findet man häufig Systeme mit Obstruenten an labialer, dental-alveolarer und velarer Artikulationsstelle; und man findet kein System, das ausschließlich Artikulationsstellen vor oder ausschließlich solche hinter dem Palatum nutzte (obwohl deren schiere Anzahl sicher ausreichen würde). Feinere Unterschiede, z.B. zwischen Dentalen und Retroflexen, zwischen Velaren und Palatalen oder zwischen Velaren und Uvularen, setzen die Besetzung der Positionen ‘labial - dental/alveolar - velar’ voraus.
Innerhalb der Liquiden ist die wichtigste Opposition die zwischen lateralen (l-artigen) und unterbrochenen (vibranten oder rhotischen) Liquiden. Diese Opposition besteht allerdings in vielen Sprachen nicht oder ist labil. Im Koreanischen ist die Liquida kontextabhängig [r] oder [l]. Im Japanischen ist die Liquida [r], im Chinesischen ist sie [l].1 Im Yukatekischen kommt [r] nur in Onomatopoetika vor; sonst vertritt [l] die Liquiden.
Das kleinste Konsonantensystem hat Rotokas (Pazifik):
b | g | |
p | t | k |
r |
Dazu kommen die fünf Kardinalvokale, so daß die Sprache den Rekord des kleinsten Phonemsystems hält, zusammen mit Pirahã (Amazonien) (8 Konsonanten und 3 Vokale).
Eines der größten Phonemsysteme hat !Xu~ (KhoiSan, Südafrika) mit 95 Konsonanten und 24 monophthongischen Vokalen (Maddieson, 1984).
Vokalsysteme pflegen zwischen 2 und 20 Vokalen zu umfassen. Mehr – wie im soeben genannten !Xu~ – ist selten, weniger kommt nicht vor.
Der fundamentale Parameter zum Aufbau eines Vokalsystems ist die Opposition 'kompakt vs. diffus' (Jakobson & Waugh 1979:110f). Dies folgt aus dem implikativen Universale 'wenn eine Sprache dunkle von hellen Vokalen unterscheidet, dann unterscheidet sie auch kompakte von diffusen.'2
Der auditive und artikulatorische Raum wird in jedem Falle gleichmäßig ausgenutzt (Maddieson 1984), d.h. drei Vokale können - insbesondere durch Allophonie - denselben Raum einnehmen wie 20. Illustrativ ist auch das Verhältnis eines typischen Sechsvokalsystems zu einem typischen Fünfvokalsystem:
|
|
Bzgl. der meisten Merkmale bestehen klare Markiertheitsverhältnisse. In Vokalen sind folgende Merkmale markiert:
Z.B. gibt es im Französischen Oral- und Nasalvokale, wie in folgendem Schaubild zu sehen:
vorn | hinten | ||||||
i / y | u | ||||||
e / ø | ə | o | |||||
ɛ / œ | ɔ | ||||||
a | ɑ |
vorn | hinten | ||||||
ɛ̃ / œ̃ | ɔ̃ | ||||||
ɑ̃ |
Das Vokalsystem wird also unter Nasalierung auf die offenen Vokale reduziert. Die Proportion von Oral- zu Nasalvokalen folgt dem Kompensationsprinzip.
Das Vokalsystem des Yuhup (Makú, Amazonien; Silva & Silva 2012:80) sticht durch weitgehende Symmetrie hervor; aber auch hier gibt es weniger Nasal- als Oralvokale.
vorn | zentral | hinten | ||||
i | ɨ | u | ||||
e | ə | o | ||||
æ | ɑ | ɔ |
vorn | zentral | hinten | ||||
ĩ | ɨ̃ | ũ | ||||
æ̃ | ɑ̃ | ɔ̃ |
In Sprachlehren, aber auch in linguistisch getönten Überblickswerken über ganze Sprachen finden sich oft schematische Darstellungen des Lautsystems einer Sprache. Seit langem bewährt ist die zweidimensionale Tabelle, wo die Artikulationsstellen die Spalteneingänge und die Konstriktionsgrade sowie – für Konsonanten – andere Artikulationsarten die Zeileneingänge konstituieren. Wenn das Vokalsystem der Sprache schlicht ist, kann man es sogar mit dem Konsonantensystem in eine einzige Tabelle packen, wie im Falle des Spanischen:
Artikulationsstelle Artikulationsart |
labial | dental | palatal | velar | |
okklusiv | stl. | p | t | k | |
---|---|---|---|---|---|
sth. | b~β | d~ð | g~ɣ | ||
frikativ/affrikat | f | θ / s | ʧ | x~χ | |
nasal | m | n | ɲ | ||
liquid | lateral | l | ʎ | ||
vibrant | r / ɾ | ||||
Halbvokal | j | w | |||
Vokal | geschlossen | i | u | ||
mittel | e | o | |||
offen | a |
Hierbei sind folgende Punkte zu beachten:
Zu Konsonantensystemen: Hagège & Haudricourt 1978.
Zu Vokalsystemen: Maddieson 1984.
1 Was im Pinyin <r> geschrieben wird, ist ein Approximant.
2 Primitiv gesprochen: das Wesentliche am Vokal ist, daß der Mund aufgemacht wird.