In allen Kulturen bedeutet Bildung in erster Linie, lesen und schreiben zu können. Dieses sind gleichsam höherwertige kommunikative Tätigkeiten. Dadurch ergibt sich von selbst eine Abwertung der mündlichen Kommunikation. Die schriftliche Wiedergabe von Sprache gilt dann als die “eigentliche”, “korrekte” Repräsentation; die mündliche Rede strebt nach dem schriftlichen Standard und bleibt dahinter immer in gewissem Maße zurück (vgl. auch ‘Mündlichkeit und Schriftlichkeit’). Langjähriger Schulunterricht prägt uns alle in dem Sinne, daß die eigentliche Existenzweise sprachlicher Ausdrücke die geschriebene ist, daß diese eine regelmäßige Struktur hat, während die mündliche Rede bloß ein unvollkommener Versuch von deren Wiedergabe und deswegen kein würdiger Untersuchungs- und Unterrichtsgegenstand ist. In Sprachführern wird das Lautsystem der Sprache (wenn überhaupt) so dargestellt, daß das Alphabet vorausgesetzt und seinen Buchstaben Ausspracheangaben zugeordnet werden, anstatt daß das Lautsystem und für jeden Sprachlaut seine Schreibung angegeben wird.
Dies ist alles falsch. Infolgedessen bedarf es zu Beginn des Linguistikstudiums einer nicht geringen Anstrengung, um die über Jahre antrainierte Fehlhaltung wieder abzulegen. In Wahrheit ist die lautliche Sprache fundamental, die Schriftsprache ist abgeleitet:
Die gesprochene Sprache (Lautsprache) hat vor der geschriebenen Sprache (Schriftsprache) Priorität, das lautliche hat vor dem schriftlichen Medium Priorität. Dies gilt in drei Hinsichten:
Nur zum letzten Punkt muß einschränkend gesagt werden, daß sich in manchen komplexen Kulturen wie der unseren die Schriftsprache im Laufe der Jahrtausende in einem Maße verselbständigt hat, daß sie Gelegenheit hatte, Eigenheiten auszubilden, die sich nicht mehr auf die Lautsprache zurückführen lassen. Das berührt jedoch nicht die grundsätzliche Richtigkeit der obigen Systematisierung.
Dadurch daß man seit der Schulzeit immer nur darauf gedrillt wurde, auf Buchstaben zu achten, und daß man Laute nie in derselben Weise reflexiv als solche wahrzunehmen gelernt hat, ersetzt man beim Nachdenken und Reden über Sprache oft Laute durch Buchstaben. Man glaubt dann z.B., in dem Wort Lied ein d, in dem Wort Ruhe ein h und in dem Wort wer ein r zu hören; oder man glaubt, das Wort Hexe enthalte vier Laute. Eine der ersten Aufgaben, wenn man sich mit Phonetik befaßt, ist es daher, zu lernen, unvoreingenommen hinzuhören. Dazu muß man die schriftliche Wiedergabe des Gehörten vergessen. Dies ist übrigens auch der didaktische Grund, aus dem in einem guten Kurs in Phonetik und Phonologie viele Daten nicht der Muttersprache der Teilnehmer, sondern solchen Sprachen entnommen sind, die sie nicht lesen und schreiben können.
Der Unterschied zwischen Laut und Buchstabe ist sehr einfach: Laute kann man hören, Buchstaben kann man sehen. Auf den Gedanken, das eine auf das andere zu reduzieren, kann man nur kommen, wenn man glaubt, es bestehe eine biunikale Entsprechung zwischen Laut und Buchstabe. Das ist entfernt nicht der Fall, weder im Deutschen noch in sonst irgendeiner Sprache. Multiple Entsprechungen zwischen Laut und Buchstabe lassen sich wie folgt systematisieren:
Die einzelnen Verhältnisse dieser Art definieren die in der folgenden Tabelle aufgeführten Begriffe:
Heterographie ist die Beziehung zwischen zwei sprachlichen Ausdrücken, die zwar gleich gesprochen, aber verschieden geschrieben werden. Die folgende Tabelle bringt einige deutsche Beispiele:
Homographie ist die Beziehung zwischen zwei sprachlichen Ausdrücken, die zwar verschieden gesprochen, aber gleich geschrieben werden. Die folgende Tabelle bringt einige deutsche Beispiele:
Ein englisches Beispiel ist lives, welches entweder [lɩvz] “lebt” oder [laevz] “Leben (Pl.)” repräsentiert. Auch deutsche Wörter wie
Plurigraphie ist die Schreibung eines einzelnen Lauts durch eine Folge von Buchstaben; Haplographie ist das Umgekehrte. Die folgende Tabelle bringt einige deutsche Beispiele:
Beispiele wie diese zeigen, daß es keine allgemeine biunikale Entsprechung zwischen Laut und Buchstabe gibt. Man könnte nun versuchen, solche Fälle als Ausnahmen zu deklarieren und die biunikale Entsprechung immer noch als Prinzip zu retten. Solche Versuche schlagen jedoch fehl; Näheres zu diesem Thema anderswo.
Bereits der vorangegangene Abschnitt zeigt, daß gewöhnliche Orthographie nicht ausreicht, um den Laut exakt wiederzugeben. Andere Beobachtungen führen zu demselben Schluß. Z.B. lautet der Vokal des Wortes tun in hochdeutscher Aussprache [u], in sächsischer jedoch [ɯ]. Das ist im Deutschen nur ein Dialektunterschied, der für die Verständigung nichts ausmacht. In anderen Sprachen wie Türkisch und Koreanisch jedoch treten diese beiden Laute in sonst gleichen Wörtern auf und unterscheiden deren Bedeutung (sie sind, wie anderswo erklärt wird, distinktiv).
Ein anderes Beispiel derselben Art ist die Qualität des l in Wörtern wie halt. In thüringischer und hochdeutscher Aussprache ist dies ein [l], in kölnischer (ebenso wie übrigens in englischer) Aussprache jedoch ein [l] (alias [ɫ]). Auch dieser Unterschied in der Qualität des l ist in anderen Sprachen, z.B. dem Russischen, distinktiv.
Es zeigt sich also, daß man über die übliche Orthographie hinaus Symbole braucht, die bestimmte Laute wiedergeben. Dazu gibt es das Internationale Phonetische Alphabet (IPA), das genau dieses leistet. Seine Symbole werden in professionellen Angaben zur Aussprache (z.B. in guten Wörterbüchern) verwendet und daher auch in diesem Traktat eingeführt und geübt. Näheres hierzu im Kapitel über phonetische Transkription.
Aufmerksame Lektüre des vorangegangenen Textes lehrt bereits, daß sprachliche Ausdrücke auf verschiedene Weise typographisch bezeichnet werden, je nachdem was gemeint ist. In ihrer üblichen Verwendung im laufenden Text verweisen sprachliche Ausdrücke auf das, was mit ihrer Bedeutung gegeben ist. Da werden sie in schlichter Orthographie notiert. Daneben treten in der Wissenschaft, besonders der Linguistik und der Phonetik, noch andere schriftliche Verwendungen sprachlicher Ausdrücke auf. Für diese gibt es allgemeingültige Notationskonventionen, die in der folgenden Tabelle aufgeführt sind:
(Der Unterschied zwischen einer phonetischen und einer phonologischen Repräsentation wird anderswo erläutert.) Diese Konventionen sind verbindlich. Insbesondere ist es ein Fehler, zitierte Ausdrücke ohne besondere Hervorhebung zu schreiben oder in Anführungszeichen zu setzen. Nur wo auf andere Weise – z.B. in einer Tabelle durch die Beschriftung eines Zeileneingangs – explizit ist, daß sprachliche Ausdrücke nicht auf die gewöhnliche Weise verstanden werden sollen, kann die besondere typographische Auszeichnung unterbleiben.
Für diese und ähnliche Konventionen s.a. die Abkürzungsliste.