Die Realdefinition eines Begriffs durch Angabe des Oberbegriffs und der unterscheidenden Merkmale, durch genus proximum und differentia specifica, soll das Wesen des Begriffs erfassen. Unter allen Aspekten des Begriffs soll sie diejenigen hervorheben, die nach unserem intuitiven Vorverständnis für ihn konstitutiv sind, soll also nicht auf arbiträre Merkmale gegründet sein, in denen der Begriff sich zufällig auch von anderen unterscheidet. Ein bekanntes Beispiel einer in diesem Sinne unbefriedigenden Definition ist die Definition des Menschen als ‘federloser Zweibeiner’. Es scheint klar, daß jemand, der mit dem Begriff ‘Mensch’ unvertraut war, aufgrund der Kenntnis dieser Definition nicht zu unserem Verständnis des Begriffes gelangen wird, weil er das Wesentliche nicht erfahren hat.
Nach einer verbreiteten Auffassung kennen die empirischen Wissenschaften das Wesen der von ihnen untersuchten Gegenstände nicht und setzen auch keine Annahmen darüber voraus. Insoweit Sprachwissenschaft eine empirische Wissenschaft ist, würde das auch für sie gelten (so Altmann & Lehfeldt 1973: 22-24). Das würde bedeuten, daß Aussagen über das Wesen der Sprache innerhalb der Sprachwissenschaft überflüssig oder gar unwissenschaftlich wären. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen falsch. Der erste Grund betrifft jegliche Wissenschaft: Wie in dem Abschnitt über Theorie und Modell besprochen, findet eine Wissenschaft ihren Gegenstandsbereich nicht einfach vor, sondern konstituiert ihn selbst. Sie tut das nicht nach arbiträren Kriterien, sondern nach solchen, die in einer relevanten Hinsicht wesentlich sind. Der zweite Grund ist spezifisch für Wissenschaften mit einer logischen Komponente, also insbesondere für die Linguistik. Linguistik geht nicht rein induktiv vor, sondern hat auch gewisse begriffliche Strukturen zur Voraussetzung, die sie im Denken vorfindet und explizit machen muß; sie geht also auch deduktiv vor. Das heißt, alle Sprachwissenschaft basiert auf einem intuitiven Vorverständnis dessen, was Sprache ist. Dies zeigt sich etwa, wenn wir gewisse lautliche Äußerungen des Menschen wie Trällern oder Räuspern ohne Zögern als nicht-sprachlich erkennen.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß schon vor aller Sprachwissenschaft ein klarer Begriff von Sprache vorhanden wäre, den die Sprachwissenschaft bloß zu formulieren brauchte. Es gibt ja Grenz- und Zweifelsfälle. Zum Beispiel gibt es Trommel- und Pfeifsprachen, in denen gewisse Stämme in natürlicher Weise Nachrichten übermitteln, die allerdings ganz oder teilweise ohne den Einsatz der Sprechwerkzeuge auskommen und daher eine ganz andere Ausdrucksstruktur haben als diejenigen Phänomene, die zweifelsfrei Sprachen sind. Wiederum gibt es Gebärdensprachen - das sind Sprachen, die von Taubstummen verwendet werden - wie die Deutsche Gebärdensprache oder die American Sign Language, die keine Derivate einer gesprochenen Sprache wie etwa des Deutschen oder Englischen sind und sich dennoch von solchen Sprachen im wesentlichen nur im Übertragungsmedium und davon abhängigen Struktureigenschaften unterscheiden, während in der semantischen Struktur keine prinzipiellen Unterschiede zu bestehen scheinen. Ferner gibt es zahlreiche formale Sprachen wie etwa die logischen Kalküle oder die Programmiersprachen, die zwar von natürlichen Sprachen abgeleitet sind, aber doch teilweise andere Eigenschaften haben als diese.
Dies sind Beispiele für Phänomene, die sicher nicht im Zentrum unseres Sprachbegriffs stehen und von denen wir im Zweifel sein können, ob sie unter ihn fallen oder nicht. Mit den prototypischen Sprachen haben sie gemeinsam, daß es menschliche Sprachen sind. Daneben gibt es natürlich die sogenannten Tiersprachen, etwa die Kommunikationssysteme der Bienen, Affen oder Delphine. Auch diese werden häufig Sprachen genannt; dabei ist nicht immer klar, ob der Ausdruck ‘Sprache’ hier in metaphorischer Weise angewandt wird, so wie man etwa auch von einer ‘Sprache der Blumen’ spricht, oder ob impliziert ist, daß solche tierischen Kommunikationssysteme nicht wesensverschieden von menschlichen Sprachen sind.
Die Phänomene, die wir im allgemeinen nicht meinen, wenn wir als Sprachwissenschaftler von ‘Sprache’ reden, können wir auf einer vortheoretischen Ebene durchaus mit Hilfe von Merkmalen ausgrenzen, die sich im Licht einer fertigen Sprachtheorie womöglich als arbiträr herausstellen werden. So können wir zunächst die menschlichen von den nicht-menschlichen Sprachen unterscheiden und uns auf die menschlichen konzentrieren. Ferner können wir, innerhalb der menschlichen, die natürlichen von den formalen Sprachen unterscheiden und uns auf die natürlichen Sprachen konzentrieren. Dann haben wir immer noch mit den zuerst genannten Phänomenen der Pfeif- und Trommelsprachen und der Gebärdensprachen der Taubstummen zu tun. Unser Bedürfnis, diese vorläufig auszugrenzen, beruht offenbar auf dem Kriterium, daß sie nicht dasselbe Übertragungsmedium verwenden wie die prototypischen Sprachen. Gebärdensprachen verwenden das akustische Medium überhaupt nicht, die Trommelsprachen tun das zwar, verwenden aber die menschlichen Sprechwerkzeuge nicht. Und die Pfeifsprachen schließlich setzen die Sprechwerkzeuge in einer ganz anderen Weise als die prototypischen Sprachen ein.
Die angeführten Beispiele zeigen, daß wir zwar einen vorgefaßten Begriff von ‘Sprache’ haben, über den die Sprachwissenschaft nicht, in der Meinung, sie sei eine rein empirische Wissenschaft, hinweggehen kann, daß dieser Begriff aber offenbar ein prototypischer Begriff ist. Mit der Konstitution prototypischer Begriffe werden wir uns in dem diesbezüglichen Kapitel ausführlicher beschäftigen. Hier genügt es zu wissen, daß die Intension eines prototypischen Begriffs als eine Menge von Merkmalen gedacht werden kann, die nicht alle notwendig sind; entsprechend kann seine Extension gedacht werden als eine Menge von Objekten, deren einige alle Merkmale des Begriffs aufweisen und mithin typische Repräsentanten des Begriffs sind, während andere nur einige der Merkmale aufweisen und mithin nur marginal unter den Begriff fallen. Unser Begriff von Sprache ist ein solcher prototypischer Begriff, und zwar selbst wenn wir von den offensichtlich metaphorischen Verwendungen wie ‘Sprache der Blumen’ absehen. Wenn wir nach dem Wesen der Sprache fragen, haben wir uns also auf die typischen Vertreter wie Khmer und Deutsch zu konzentrieren und Fälle wie Pfeifsprachen und Gebärdensprachen zunächst unberücksichtigt zu lassen, da sie für den Sprachbegriff, von dem wir ausgehen, offensichtlich nicht zentral sind. Es bleibt empirischer Forschung vorbehalten, festzustellen, welches die für sie konstitutiven Eigenschaften sind und inwieweit sie mit denen unseres prototypischen Sprachbegriffs zusammenfallen. Dabei kann es sich durchaus herausstellen, daß zum Beispiel die Delphinsprache näher am Zentrum des Begriffs ‘Sprache’ steht als eine menschliche Trommelsprache.
Daß eine Definition Auskunft über das Wesen eines Phänomens erteilt, hängt offenbar eng damit zusammen, daß sie das Phänomen unter den richtigen Oberbegriff subsumiert. Die oben angeführte Definition des Menschen als eines federlosen Zweibeiners weist den Menschen in die Klasse der Zweibeiner ein; aber wir bemerken, daß dies offenbar keine natürliche Klasse ist, da sie gewisse gefiederte Tiere zufällig mitumfaßt. Unsere Frage nach dem Wesen der Sprache ist also in erster Linie eine Frage nach dem natürlichen Oberbegriff für Sprache. Die Definition der Sprache, die ich gegeben habe, lautet: Sprache ist das unbeschränkte Schaffen interindividuell verfügbarer Bedeutungen. Damit habe ich den mir wesentlich erscheinenden Oberbegriff zwar genannt. Es ist aber dennoch nützlich, sich die wichtigsten Alternativen vor Augen zu führen; denn sie haben in der Geschichte der Sprachtheorie eine große Rolle gespielt und weisen, auch soweit sie unzutreffend sind, auf bedeutsame Aspekte der Sprache hin. Die hier zu besprechenden Sprachauffassungen sind die von der Sprache als einem Organismus, einem Organ, einem Werkzeug, einem System und einer Tätigkeit.
Ein Organismus ist eine gegliederte Ganzheit derart, daß die Glieder verschiedene Funktionen erfüllen, die dem Zweck des Bestandes der Gesamtheit untergeordnet sind. Die Glieder eines Organismus sind also funktionell aufeinander bezogen und bedingen einander derart, daß jedes für das Bestehen des Ganzen und das Funktionieren der anderen Glieder notwendig ist. Wesentlich für den Organismusbegriff ist also, daß die innere Organisation des Organismus als zweckgerichtet verstanden, also finalistisch, genauer: teleonomisch interpretiert wird. Er wird daher am natürlichsten auf Lebewesen oder als beseelt gedachte Phänomene angewandt. Zur Zeit der Klassik und Romantik war der Begriff sehr beliebt, und man versuchte mit seiner Hilfe auch die Struktur von Menschenwerken, vor allem von Kunstwerken, zu verstehen. Die Beliebtheit des Begriffs in den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts, also auch der Sprachwissenschaft, erklärt sich auch dadurch, daß die Naturwissenschaften, in denen er eigentlich beheimatet war, spektakuläre Erfolge aufzuweisen hatten, so daß man sich gern ihrer Terminologie bediente.
Schon in den frühesten Schriften W. v. Humboldts (und auch noch 1836:476) findet sich die Auffassung der Sprache als eines Organismus in dem eingangs erläuterten Sinn. 1841 publizierte K.F. Becker eine ziemlich einflußreiche allgemeine Grammatik unter dem Titel "Organism der Sprache". Die weitestreichenden Konsequenzen aus dem Organismusbegriff zog jedoch August Schleicher:
Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen “Leben” zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften. (Schleicher 1873:6f)Fast alle wichtigen Implikationen der Bestimmung der Sprache als eines Organismus sind hier beisammen:
Diese Anschauungen sind, auch soweit sie falsch sind, noch heute gelegentlich anzutreffen. Immer wenn wir in wissenschaftlichen Aussagen die Sprache zum Subjekt eines Handlungsverbs machen und zum Beispiel behaupten, eine Sprache drücke etwas aus, erwerbe eine Eigenschaft oder kompensiere (im Sprachwandel) einen Verlust, verleihen wir im Grunde einer animistischen Auffassung der Sprache Ausdruck. Von gelegentlichen Ausnahmen, etwa bei dem Humboldt-Nachfolger L. Weisgerber, abgesehen, wird aber die Sprache bereits im 20. Jahrhundert nicht mehr ein Organismus genannt. Das wesentlich Falsche an dieser Auffassung hatte schon 1885 H. Schuchardt herausgestellt: Die Sprache ist nicht selbständig, sondern vom Menschen abhängig. Es trifft wohl zu, daß der Mensch nicht über alle ihre Aspekte jederzeit Kontrolle hat, sondern sich den Gesetzen fügen muß, die ihr Funktionieren bedingt. Aber daß die Sprache ihren Benutzern keine völlige Freiheit läßt, bedeutet nicht, daß sie von ihnen gänzlich unabhängig ist, sondern lediglich, daß die Sprecher und Hörer sich gewissen gemeinsamen Gesetzen unterwerfen, um ihre Ziele zu erreichen.
Ferner ist es natürlich falsch, daß die Sprache nichts anderes als ein Naturobjekt und mithin die Sprachwissenschaft nichts anderes als eine Naturwissenschaft sei. Wenn nicht überhaupt alle empirischen Wissenschaften Naturwissenschaften sein sollen und wenn man auch andere empirische Gegenstände neben den natürlichen erkennt, so ist die Sprache sicherlich nicht ein natürlicher Gegenstand,1 sondern ein nicht-materielles Erzeugnis des Menschen; und Sprachwissenschaft ist insofern eine Geisteswissenschaft. Bei dieser Argumentation können wir übrigens eine Beobachtung machen, die sich auch im folgenden noch an manchen Stellen machen läßt, ohne daß ich immer darauf aufmerksam machen werde: Die Auffassung unseres Objektbereichs und die Auffassung von dem Charakter unserer Wissenschaft bedingen einander gegenseitig. Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft sind daher zwar in dem in Kap. 1.3.3.1 erläuterten Sinne verschieden, aber durchaus voneinander abhängig.
Die eingangs gegebene Begriffsbestimmung des Organismus als einer Ganzheit, deren Glieder funktionell bestimmt und aufeinander angewiesen sind, trifft dagegen durchaus auf die Sprache zu. Wenn wir sagen, in der Sprache hänge alles organisch miteinander zusammen, meinen wir im Grunde, daß ihre Teile zwar Verschiedenes leisten, aber einander ergänzen und so ineinandergreifen, daß keiner durch einen anderen ersetzt werden oder ohne die anderen funktionieren kann. Diese Ansicht herrscht auch heute in der Sprachwissenschaft noch vor und wird von dem später zu besprechenden Begriff der Sprache als System weitgehend abgedeckt. Ferner trifft es zu, daß die Sprache eine Evolution hat; freilich nicht als ein selbständiges Lebewesen, sondern als ein Aspekt des Menschen. Die Evolution der Sprache ist mithin ein Teil der Evolution des Menschen.
Wir können also aus dieser Diskussion das Fazit ziehen, daß die Auffassung der Sprache als Organismus zwar einige ihrer Aspekte richtig hervorhebt, vor allem ihren systematischen und zielgerichteten Charakter, daß diese Aspekte jedoch von angemesseneren Sprachauffassungen hinreichend abgedeckt werden und die Redeweise vom Organismus daher nur metaphorisch verstanden werden kann: Die oder eine Sprache ist nicht ein Organismus, sondern ist in mancher Hinsicht wie ein Organismus.
Während das Wort ‘Organismus’ ein wissenschaftliches Kunstwort der Neuzeit ist, bedeutet das Wort ‘Organ’ (órganon) im Griechischen "Werkzeug". Freilich verstehen wir unter ‘Organ’ nicht ein Werkzeug schlechthin, sondern einen durch seine Funktion und Gestalt bestimmten und von anderen Teilen verschiedenen Teil eines lebenden Körpers, eines Organismus. Der wesentlichste Unterschied zwischen den Auffassungen der Sprache als Organismus und als Organ besteht also darin, daß die Sprache im letzteren Falle nicht als selbständig, sondern als ein Teil des Menschen gesehen wird.2 Eine fundamentale Schwäche der ersteren Auffassung ist damit überwunden.
W. v. Humboldt (1836: 426) hatte gesagt:
"Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken."
Das bedeutet, in der Redeweise des 19. Jahrhunderts, nicht, daß die Sprache den Gedanken schafft, sondern daß sie ihn formt. In diesem Sinne erläutert Humboldt im folgenden:
"Die intellektuelle Tätigkeit ... ist aber auch in sich an die Notwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden."
Man sieht, daß es Humboldt hier nicht auf die Implikationen des Begriffs ‘Organ’, sondern auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken ankommt, der uns in einem eigenen Kapitel beschäftigen wird.
Eine bedeutende Rolle spielt die Anwendung des Organbegriffs auf die Sprache dagegen im Werk N. Chomskys. Er betrachtet nicht nur die Sprachfähigkeit im allgemeinen, sondern die Sprache mit allen ihren Eigenschaften, soweit sie universal sind, als angeboren, mithin als zur biologischen Ausstattung des Menschen gehörig. Folglich ist die Sprache wie ein beliebiges Körperorgan zu erforschen; wiederholt, etwa in Chomsky 1975, ch. 1, findet sich die Analogie zur Erforschung des Auges. Daraus folgt wiederum – wie oben bei A. Schleicher –, daß die Sprachwissenschaft eine Naturwissenschaft sei.
Gegen diese Auffassung hatte sich schon H. Steinthal (1848 [1971]: 85f) mit folgenden Worten gewandt:
"Die Sprache ist nicht ein Etwas wie Pulver, sondern ein Ereignis wie die Explosion; sie ist nicht ein Organ wie das Auge oder Ohr, sondern eine Fähigkeit und Tätigkeit wie Sehen und Hören."
Man kann hinzufügen, daß es, ebenso wie für die hier genannten Fähigkeiten und Tätigkeiten, theoretisch auch für die Sprache ein Organ geben könnte. Natürlich gibt es Körperorgane, die unter anderem für Sprechen und Verstehen eingesetzt werden, zum Beispiel die Zunge und das Ohr. Ein Organ allerdings, in dem die Sprachstruktur bzw., wie Chomsky sagt, die universale Grammatik, gespeichert wäre oder erzeugt würde, müßte wohl im Umkreis des Gehirns angesiedelt sein. Sie bildet dort jedoch kein isolierbares Organ. Es ist ziemlich sicher, daß die Sprachfähigkeit von anderen menschlichen Fähigkeiten des Wahrnehmens, Denkens und der sozialen Interaktion nicht klar abgegrenzt ist und daß sie entsprechend im Gehirn nicht in einem isolierbaren, allein für sie zuständigen Bereich lokalisiert ist. Vielmehr sind verschiedene Bereiche des Gehirns sowohl für die Sprache als auch für andere menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten zuständig (vgl. Kap. 3.3.2.2).
Wiederum ist auch einiges an der Auffassung der Sprache als Organ richtig. Zum Beispiel ist die Sprache wirklich ein – wenn auch immaterieller – Teil des Menschen, der mit anderen Teilen zusammenwirkt, dem Ganzen des Menschen zwar untergeordnet ist, jedoch mit allen anderen Aspekten zusammen dieses Ganze konstituiert. Ferner ist die Sprache, wie ein Organ, nicht nur durch ihre Gestalt, sondern vor allem durch ihre Funktion bestimmt. (Dieser letztere Aspekt ist allerdings gerade für Chomskys Auffassung nicht konstitutiv.) Die irreführenden Implikationen überwiegen jedoch auch in dieser Auffassung die zutreffenden. Daher können wir die Anwendung des Begriffs ‘Organ’ auf die Sprache wieder nur metaphorisch verstehen: Die Sprache ist nicht ein Organ, sondern sie ist in mancher Hinsicht wie ein Organ.
Der Begriff des Werkzeugs ist dem des Organs recht ähnlich; die Griechen hatten, wie schon gesagt, für beides nur ein Wort (vgl. K. Bühlers [1934] Begriff des Organon). Auch ein Werkzeug ist wesentlich durch seine Gestalt und seine Funktion bestimmt. Es ist allerdings, im Unterschied zum Organ, nicht Teil des Menschen, sondern von ihm gemacht. In dieser Hinsicht sind beide Begriffe der Sprache angemessen: Die Sprache im Sinne einer ‘langue’ ist vom Menschen gemacht, aber im Sinne des ‘langage’ ist sie ein Teil von ihm.
Anthropologisch bedeutsam ist ferner, daß der Mensch die Sprache ebenso wie seine Werkzeuge zwischen sich und die Welt setzt, um die Welt zu manipulieren und zu bewältigen (Vygotski 1964: 4; Gehlen 1961: 15). Der Gedanke, daß die Sprache zwischen dem Menschen und der Welt vermittelt, findet sich ebenfalls schon bei W. v. Humboldt. Er schreibt,
daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. (Humboldt 1820 [1963]:19f)
Diese Anschauung der Sprache als Zwischenwelt zwischen Mensch und Welt hat später bei L. Weisgerber eine große Rolle gespielt, soll uns aber in einem anderen Kapitel beschäftigen.
Die instrumentale Auffassung der Sprache, wie man ihre Auffassung als Werkzeug auch nennt, konzentriert sich meist auf einen anderen Aspekt, der bereits in Platons ‘Kratylos’ entwickelt ist und für den A. Martinets (1962: 26) Definition typisch ist: "A language is a medium of communication ...". Die Sprache wird hier als ein Mittel, Werkzeug oder Instrument gesehen, durch das der Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert, sie beeinflußt oder manipuliert. Hieran ist sicher richtig, daß der Mensch sich der Sprache zu verschiedenen Zwecken bedienen kann, an deren Spitze die Kommunikation und die Erkenntnis der Welt stehen. Von dem zweiten Zweck sehen allerdings viele moderne instrumentale Auffassungen ab und beeinhalten insofern schon einen reduzierten Sprachbegriff. Die richtige Einsicht, daß die Sprache dem Menschen zu gewissen Zwecken dient, impliziert freilich keineswegs, daß sie als ein Ding eine unabhängige Existenz außerhalb des Menschen hat, so wie es der Begriff des Werkzeugs impliziert. Dieser letztere Gedanke ist in vielen Sprachauffassungen enthalten, zum Beispiel auch in der zuerst besprochenen als Organismus; aber er ist falsch. Diese reifizierende Sicht der Sprache ist statisch, während die Sprache etwas Dynamisches ist. Sie gestattet es nicht, das Funktionieren der Sprache zu einem gegebenen Zeitpunkt zu verstehen, und noch weniger ihren Wandel in der Zeit. Mithin kann auch die Aussage "Sprache ist ein Werkzeug" nur als eine Metapher, nicht als eine Wesensbestimmung verstanden werden (vgl. Frentz & Lehmann 2002, §2).
Auch die Auffassung der Sprache als System findet sich gelegentlich schon im 19. Jahrhundert, etwa bei A.F. Pott (1833). G. v.d. Gabelentz, der in vielem ein Vorläufer F. de Saussures war, schrieb in seinem Hauptwerk Die Sprachwissenschaft:
"Jede Sprache ist ein System, dessen sämtliche Teile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Teile dürfte fehlen oder anders sein, ohne daß das Ganze verändert würde." (Gabelentz 1901: 481)Die wichtigste Eigenschaft eines Systems, nämlich die totale Interdependenz der Teile, ist hier deutlich ausgesprochen. Die Annahme, daß natürliche Sprachen diese Eigenschaft haben, wird von zahlreichen Linguisten des 20. Jahrhunderts geteilt und ist zweifellos der Grund, aus dem sie der Auffassung der Sprache als System zustimmen. Die gesamte strukturale Sprachwissenschaft basiert auf dieser Annahme. F. de Saussure (1916: 159) formulierte sie so:
"la lange est un système dont tous les termes sont solidaires et où la valeur de l'un ne résulte que de la présence simultanée des autres".Die prägnanteste und am häufigsten zitierte Formulierung des Gedankens geht freilich auf A. Meillet zurück, der 1903 in seiner Introduction à l'étude comparative des langues indo-européennes (S. 407) schrieb,
"que chaque langue forme un système où tout se tient".
Gabelentz' Formulierung führt auf den engen Zusammenhang zwischen dem Begriff des Organismus und dem des Systems. Auch für jenen ist ja, wie wir sahen, die Interdependenz aller Teile konstitutiv. Mit leichter Vereinfachung könnte man sagen, daß das 20. Jahrhundert System nennt, was das 19. Jahrhundert Organismus nannte. Der Begriff des Systems impliziert freilich nicht jenen animistischen Gedanken, daß die Sprache ein Eigenleben führe. Auch ist ein System nicht unbedingt, wie ein Organismus, finalistisch orientiert. Statt dessen tritt hier ein anderer Aspekt in den Vordergrund, der der Regelmäßigkeit und hierarchischen Strukturiertheit.
Am strengsten haben L. Hjelmslev und nach ihm die Generative Transformationsgrammatik mit dem Systembegriff Ernst gemacht. Hjelmslev (1944) sagt expliziter als die meisten anderen Strukturalisten, daß die Auffassung der Sprache als eines Systems eine Annahme ist, die grundsätzlich falsifizierbar ist. Wenn man zeigen kann, daß ein gewisser Teil einer Sprache ceteris paribus auch anders sein oder fehlen könnte, so ist die Annahme widerlegt. Ob und wie das freilich geschehen könnte, bleibt offen. Hjelmslev hat jedenfalls klar erkannt, daß die gesamte strukturale Sprachwissenschaft auf dieser Hypothese basiert und mit ihr steht und fällt. Denn wenn die Sprache kein System ist, hat es keinen Sinn, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen, aus denen beobachtete Phänomene abgeleitet werden könnten. Dieser hypothetische Charakter des Systembegriffs ist nicht bei allen Strukturalisten so klar. So schreibt zum Beispiel N.S. Trubetzkoy:
"La langue étant un système, il doit y avoir un lien étroit entre la structure grammaticale et la structure phonologique de la langue. Avec une même structure grammaticale ne peuvent se combiner qu'un nombre limité de systèmes phonologiques." (Trubetzkoy 1939: XXVII)Hier wird der Systemcharakter der Sprache zum Postulat oder zur Selbstverständlichkeit, aus der spezifischere Theoreme sich ergeben, die eigentlich Gegenstand empirischer Forschung und Überprüfung sein sollten.
Bei einiger Vorsicht kann man wohl sagen, daß ein Jahrhundert strukturale Sprachwissenschaft und in jüngerer Zeit die Sprachtypologie die Hypothese vom systematischen Charakter der Sprachen teils bestätigt, teils nicht bestätigt und möglicherweise widerlegt haben. Einerseits gibt es Aspekte der Sprache, die ziemlich starren Gesetzmäßigkeiten gehorchen, etwa die Markiertheitsbeziehungen in Flexionsparadigmen (vgl. Kap. 14) oder die Wortstellung in einigen syntaktischen Konstruktionen. Andererseits gibt es Bereiche, in denen bisher keine Systematik gefunden wurde. Das Lexikon einer Sprache hält wohl niemand für vollkommen systematisch. Aber auch in der Grammatik scheint es Verhältnisse zu geben, die ebensogut auch anders sein könnten, als sie sind. So scheint etwa die Hauptkonstituentenstellung im Aussagesatz, also die Reihenfolge von Subjekt, Objekt und finitem Verb, nichts mit dem akkusativischen vs. ergativischen Charakter der Satzkonstruktion zu tun zu haben, da beide Konstruktionstypen mit allen Hauptkonstituentenstellungen vorkommen (mehr hierzu anderswo). Dies ist bemerkenswert, da es sich bei den beiden betrachteten Struktureigenschaften nicht um beliebig aus der Grammatik zusammengesuchte handelt, sondern sie beide unter die Funktion ‘Beziehung der Partizipanten auf die Situation’ zu subsumieren sind. Daß also in einer Sprache alles mit allem zusammenhängt, kann wohl in einer strengen Form nicht aufrecht erhalten werden. Andererseits, wenn man von zwei Eigenschaften der Sprache zeigt, daß sie nicht miteinander zusammenhängen, hat man nocht nicht gezeigt, daß jede der beiden mit nichts in der Sprache zusammenhängt. Dieser Beweis dürfte in der Tat kaum zu führen sein, und entsprechend dürfte die Hypothese, daß jede Sprache ein System ist, in einer hinreichend abgeschwächten Fassung kaum zu falsifizieren sein.
Eine Abschwächung der Konzeption der Sprache als System - oder, je nach Ideologie, auch ein Gegenmodell dazu - ist die Idee von ihrem modularen Aufbau. Der Begriff des Moduls ist Mitte des 20. Jahrhunderts in technischem Zusammenhang aufgetreten und umfaßt einen Teil eines Ganzen, der intern strukturiert ist, relativ selbständig eine eigene Funktion erfüllt und diese im Prinzip auch in anderen Ganzen erfüllen kann, wenn nur eine passende Schnittstelle zur Verfügung steht. In diesem Sinne könnte man sich etwa die Phonologie einer Sprache oder ihr Kasussystem als ein Modul denken, das in verschiedenen Sprach(system)en funktionieren kann. Auch bei dieser Konzeption ist nicht klar, wie sie zu testen wäre, denn zwei Sprachen, die sich nur durch den Austausch eines Moduls unterscheiden, kommen, soweit man sieht, nicht vor.
Dem Systemgedanken haftet meist etwas Statisches an. Ein System funktioniert, weil seine Teile in einer bestimmten Weise aufeinander bezogen sind. Insofern sein Funktionieren davon abhängt, daß seine Teile gerade die Formen und Wechselbeziehungen haben, die sie haben, darf sich an ihnen nichts ändern. Jede Änderung würde das System zerstören. F. de Saussure hat das Verhältnis zwischen Bestand und Wandel tatsächlich so gesehen (1967: 110-113). Für ihn bot die Synchronie das Bild eines geordneten, funktionsfähigen Systems, die Diachronie dagegen war nicht in Regeln zu fassen, denn der Sprachwandel erschien ihm als eine blindwütig und arbiträr zerstörende Kraft. Dabei blieb natürlich die Frage völlig offen, wieso eigentlich eine Sprache in jedem Augenblick ihrer Geschichte ein System ist. Denn einerseits müßte ja eigentlich das unmittelbar aus dem zerstörerischen Wandel hervorgehende Stadium insoweit unsystematisch sein. Und andererseits muß ja, wenn die Sprecher die angerichteten Verwüstungen auch immer gleich wieder reparieren, auch das zum Sprachwandel gehören. Der Sprachwandel wäre dann also sowohl Zerstörung als auch Wiederherstellung. Näheres im Kapitel über Sprachwandel.
Angesichts solcher theoretischer Schwierigkeiten hat L. Hjelmslev postuliert, daß das System sich nicht wandle, sondern durch ein anderes ersetzt werde (übernommen in Bartsch & Vennemann 1982: 149). Das ist ein typisches Beispiel für die Lösung eines Problems auf der terminologischen Ebene. Das heißt, das Problem wird in Wahrheit nicht gelöst, sondern umbenannt. Es bleibt die Frage, wie und warum eine solche Ersetzung eines kompletten Systems vonstatten geht. Abgesehen davon erscheint die Vorstellung, das Sprachsystem werde in toto und abrupt durch ein anderes ersetzt, nicht sonderlich plausibel und widerspricht unserer Alltagserfahrung.
Wir werden in Kap. 13.1 noch sehen, daß der Begriff des Systems solche Gedankenakrobatik eigentlich gar nicht nötig macht. Tatsache ist aber, daß dem größten Teil der strukturalen Sprachwissenschaft ein stark reduzierter Systembegriff zugrunde liegt, der wiederum zu einem stark reduzierten Sprachbegriff führt. Das System wird aufgefaßt als statisch, abgeschlossen und autonom. Die Folgen der statischen Auffassung für die Theoriebildung haben wir gerade bei L. Hjelmslev gesehen. Für die Forschung bedeuten sie, daß der Strukturalismus für die diachrone Linguistik nie recht fruchtbar wurde, wiewohl es natürlich nicht an Versuchen gefehlt hat, die beiden zu vereinbaren. Die Vorstellung von der Sprache als einem abgeschlossenen System führte zur Ausklammerung aller Bezüge zu benachbarten Phänomenen aus der strukturalen Sprachwissenschaft. Die Interaktion der Sprache mit Gesellschaft, Kultur, Arbeit usw. gerät nicht in den Blick der Strukturalisten. Die unbedingte Orientierung am Systempostulat führt dazu, daß die Sprache auf das reduziert wird, was an ihr systematisch, d.h. regelmäßig ist. Nicht allen Richtungen des Strukturalismus ist dieser Vorwurf in gleichem Maße zu machen. So hat es etwa in der Prager Schule Versuche gegeben, unter der Überschrift ‘Zentrum vs. Peripherie’ auch sogenannte marginale Phänomene linguistisch seriös zu behandeln (Daneš 1966). Andererseits wird in der Generativen Transformationsgrammatik versucht, Sprache auf Grammatik und damit auf einen Regelapparat zu reduzieren.
In engem Zusammenhang mit dieser Reduktion ist die Vernachlässigung der sprachlichen Bedeutung im Strukturalismus zu sehen. Der amerikanische Strukturalismus ist weitgehend asemantisch; und dies hat sich auf die Generative Transformationsgrammatik vererbt. Während einige der generativen Modelle die Semantik einbeziehen, basiert Chomskys ‘government and binding theory’ und seine nachfolgenden Modelle auf dem Postulat, daß die Syntax einen autonomen und zentralen Status im Sprachsystem habe. Die methodische Schwierigkeit, die Semantik mit dem vorgefaßten Systembegriff in den Griff zu bekommen, führt hier zu einer verzerrten Sicht des gesamten Gegenstands der Linguistik.
R. Jakobson hatte sich bereits gegen diese Reduktionen gewandt mit den Worten:
"From a realistic standpoint, language cannot be interpreted as a whole, isolated and hermetically sealed, but it must be simultaneously viewed both as a whole and as a part." (Jakobson 1963[P]: 282)Auch die Systemtheorie lehrt, daß es durchaus nicht zum Begriff des Systems gehört, statisch und abgeschlossen zu sein, daß es vielmehr dynamische und offene Systeme gibt. Auf die Defizienzen gewisser tatsächlich herrschender Sprachauffassungen ließe sich also eine Ablehnung jeglicher Auffassung der Sprache als System nicht begründen.
Etwas anders ist es mit dem Attribut der Autonomie. Zwar kann ein System, wie Jakobson sagt, durchaus Teil eines größeren Ganzen und insofern nicht autonom sein. Nichtsdestoweniger bleibt aber ein System, gleich ob statisch oder dynamisch, abgeschlossen oder offen, Ganzes oder Teil eines Ganzen, immer ein Gegenstand und genießt als solcher die relative Autonomie aller Gegenstände, nämlich im Gegensatz zu Eigenschaften oder Tätigkeiten, die in diesem Sinne nicht autonom sind, sondern nur an oder im Zusammenhang mit Gegenständen auftreten. Die wirkliche und wesentliche theoretische Defizienz der Anschauung der Sprache als System liegt in ihrer Verdinglichung. Dies hat der Systembegriff wieder mit dem Organismusbegriff gemeinsam. Das sprechende Subjekt, der Mensch, der Sprache schafft und benutzt, bleibt völlig außer Betracht. Er erscheint nur als im Sprachsystem verarbeitet und repräsentiert, zum Beispiel in all den grammatischen Kategorien, die auf die Sprechsituation Bezug nehmen (vgl. das diesbezügliche Kapitel). Daß aber das ganze System überhaupt nur funktioniert, weil der Mensch es für seine Ziele einsetzt. und daß es sich nur wandelt, weil der Mensch es wandelt, kann man nur dann angemessen würdigen, wenn man eine Perspektive außerhalb des Systems einnimmt.
Der Strukturalismus verselbständigt die Sprache und betrachtet ihr System als dem Menschen vorgegeben. Es ist für diese Sprachauffassung zufällig, der Sprache äußerlich, daß der Mensch sie benutzt. In Wahrheit aber trifft das Gegenteil zu: Der Mensch schafft das Sprachsystem in dem Bestreben, bestimmte Ziele zu erreichen. Das Schaffen geht aber dem Produkt voraus. Die Sprache ist ein System nur in einem sekundären, abgeleiteten Sinne. Primär ist sie eine Tätigkeit, nämlich eine Tätigkeit, die ein System schafft (s.u.).
Indem F. de Saussure die Sprache als System charakterisierte, stellte er gleichzeitig die Dichotomie ‘langue vs. parole’ auf. Die langue ist die einzelne Sprache als historisch begrenztes und sozial verfügbares semiotisches System. Die parole ist die Rede, d.h. das Gesamt der in Redeerzeugung und Redeverstehen zustandekommenden Äußerungen, welche Einheiten der langue aktualisieren. Indem Saussure diesen Unterschied machte, wies er der Sprachwissenschaft die Aufgabe zu, die langue, nicht die parole zu erforschen (Saussure 1916, Introduction, ch. I, §3). Gegenstand der Sprachwissenschaft war also das System, nicht dessen Aktualisierung. N. Chomsky (1965, ch. I, § 1f) unterscheidet in weitgehend paralleler Weise zwischen Kompetenz und Performanz und weist die Erforschung der Kompetenz der Linguistik, die der Performanz der Psychologie zu. Linguisten untersuchten also das System, nicht die Tätigkeit, die es aktualisierte. Diese Wahl brach die Brücken zu den Nachbarwissenschaften ab. Dies wurde freilich erst eklatant, als man behauptete, das von Linguisten beschriebene System habe "psychische Realität", d.h. müßte von der Psychologie mit ihren Methoden überprüft werden können. Psychologen unternahmen diesen Versuch, und er mißlang; denn den Methoden der Psychologie sind Systeme, die von ihrer Verwendung durch Menschen abstrahiert sind, schlechterdings nicht zugänglich.
Alle bisher besprochenen Sprachauffassungen implizieren eine verdinglichende Sicht der sprachlichen Phänomene bzw. der ihnen entsprechenden Konstrukte. Es wäre methodisch interessant zu untersuchen, inwieweit hierfür die Tatsache verantwortlich ist, daß den Linguisten ihr Objekt fast ausschließlich in schriftlicher Form vorliegt (vgl. R. Harris (1980:6-18) über "scriptism" in der gesamten Linguistik). Schon die ersten strukturalen Sprachwissenschaftler haben versichert, die schriftliche Fixierung der Sprache sei gegenüber ihrer gesprochenen Form etwas Sekundäres; eigentlicher Untersuchungsgegenstand sei die letztere. Dies war jedoch ganz offenbar ein Lippenbekenntnis, denn tatsächlich befaßte man sich fast ausschließlich mit schriftlich fixierten Objekten. Dies dürfte die methodologischen Grundannahmen der strukturalen Sprachwissenschaft in einem nicht zu unterschätzenden Maße geprägt haben. Die Rede von Systemen, Strukturen und Relationen statt von Fähigkeiten, Prozessen und Operationen erklärt sich zweifellos zum großen Teil durch die Form, in der den Linguisten ihr Objekt vorliegt.
Wir haben schon gesehen, daß die meisten der bisher besprochenen Sprachauffassungen in der einen oder anderen Weise auf W. v. Humboldt zurückgehen. Am bekanntesten ist er aber für seine Auffassung der Sprache als Tätigkeit; und dies war zweifellos auch die Position, die er ernst und wörtlich meinte. Er schreibt:
Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. ... Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (Humboldt 1836: 418)
Ehe wir den Konsequenzen dieses Grundsatzes nachspüren, müssen wir zwei mögliche Mißverständnisse beseitigen. Erstens, es geht hier nicht um die Tätigkeit des Sprechers gegenüber der des Hörers, um die Redeerzeugung gegenüber dem Redeverstehen. O. Jespersen sagt dazu:
"The essence of language is human activity - activity on the part of one individual to make himself understood by another, and activity on the part of that other to understand what was in the mind of the first." (Jespersen 1924: 17)
Sprachtätigkeit ist also sowohl die Tätigkeit des Sprechers als auch die des Hörers. Zweitens, es geht hier überhaupt nicht um Redeerzeugung und Redeverstehen im Sinne einer ‘Performanz’. Die Auffassung der Sprache als Tätigkeit impliziert nicht, daß die Linguisten ihre Analyseebene in die Gefilde der realen psychischen oder gar physischen Vorgänge beim Sprechen und Verstehen verlagern. Der Begriff der Sprachtätigkeit abstrahiert von den Unterschieden zwischen der Tätigkeit des Sprechers und der des Hörers. Nur so ist überhaupt Anschluß an den Begriff des Sprachsystems zu halten, das ja als durch die Tätigkeit erzeugt und sozial gegeben begriffen werden soll.
Man pflegte in der Generativen Transformationsgrammatik anzunehmen, eine wissenschaftliche Behandlung der Performanz setze eine Theorie der Kompetenz voraus. Zu explizieren, in welcher Weise genau diese Kompetenz an der Performanz beteiligt sei, erwies sich jedoch als unmöglich. Wenn man sich einmal die wörtlichen Bedeutungen von competence und performance ("Befähigung" und "Aufführung") vor Augen hält, ist das ganz erklärlich: In einer solchen Konzeption liegt die abwegige Idee, daß Sätze sozusagen aufgeführt werden, ungefähr wie Musikstücke. Der Begriff der Sprachtätigkeit dagegen neutralisiert den Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz. Sowohl der Begriff des Systems als auch der seiner Aktualisierung sind sekundäre, vom zentralen Begriff der Sprachtätigkeit abgeleitete Begriffe.
Wie hat man sich dann das Verhältnis von Sprachtätigkeit zu Sprachsystem vorzustellen? Die Sprachtätigkeit
"wirkt", wie Humboldt (1836: 419f) sagt, "auf eine konstante und gleichförmige Weise . ... Das in dieser Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, liegende Beständige und Gleichförmige, so vollständig als möglich in seinem Zusammenhange aufgefaßt und systematisch dargestellt, macht die Form der Sprache aus",
d.h. in modernerer Terminologie, das Sprachsystem. E. Coseriu erläutert dazu:
... auf die Frage, warum es ein System gibt, läßt sich nur die Antwort geben, daß das System existiert, weil es geschaffen wird. ... Und dieses letzte begreift ... mit ein, daß die Tätigkeit, durch die die Sprache geschaffen wird, selbst systematisch ist ... die Entwicklung der Sprache ... ist eine ständige Systematisierung. Und jeder Sprachzustand stellt eine systematische Struktur dar, gerade weil er ein Moment der Systematisierung ist. (Coseriu 1974:236)
Hier ist natürlich weiterzufragen, warum die Sprachtätigkeit systematisch ist. Diese Frage zielt auf die Funktionen, die sie erfüllt und die Gegenstand des nächsten Kapitels sein werden. Hier wollen wir statt dessen einen kurzen Rückblick halten.
Am Anfang des Vergleichs der angeführten Sprachauffassungen muß die Frage stehen, ob sie alle ‘Sprache’ in demselben Sinne meinen. Die Frage bezieht sich auf den Unterschied zwischen ‘langage’ und ‘langue’. Es zeigt sich, daß die Auffassungen der Sprache als Organismus und als System sich auf die ‘langue’ beziehen. D.h., ihre Proponenten haben sich ausdrücklich auf die ‘langue’ bezogen (gleichgültig, ob sie diesen Terminus verwendeten), und tatsächlich sind diese Auffassungen auch nur in diesem Bezug sinnvoll. Mit der Sprache als Organ oder Werkzeug haben die Proponenten normalerweise den ‘langage’ gemeint. Wiederum ist für die Auffassung als Organ auch nur dieser Bezug sinnvoll. Den Werkzeugbegriff dagegen könnte man ebensowohl auf die ‘langue’ anwenden. Man denke nur an einen mehrsprachigen Menschen, dem die eine Sprache zu einer bestimmten Menge von Zwecken, die andere jedoch zu einer anderen Menge von Zwecken dient. Das Tätigkeitskonzept schließlich ist in gleicher Weise auf die ‘langue’ und den ‘langage’ anwendbar: Der ‘langage’ ist eine von allen Menschen ausgeübte Tätigkeit, die jedoch nur in Form von ‘langues’ vorkommt.
Von der Auffassung der Sprache als Organismus haben wir als richtig festgehalten, daß sie organisch gegliedert ist und daß dies mit ihrer Zweckgerichtetheit zusammenhängt. Der Begriff des Organs hat uns gelehrt, daß die Sprache ein Teil des Menschen ist, dessen Funktion und Gestalt unlöslich miteinander verbunden sind. Auch die instrumentale Sprachauffassung ist angemessen, insofern die Sprache wirklich, wie ein Werkzeug, vom Menschen geschaffen und als Mittel zur Erreichung seiner Zwecke eingesetzt wird. Wiewohl diese drei Sprachauffassungen je etwas Richtiges treffen, subsumieren sie aber die Sprache unter einen falschen Oberbegriff und treffen deshalb ihr Wesen nicht.
Eine Sprache ist dagegen wirklich ein System, wenn auch in einem eingeschränkten und abgeleiteten Sinne. Sie ist tatsächlich ein hierarchisch strukturiertes Ganzes, dessen Teile weitgehend durch Gesetze oder Regeln aufeinander bezogen sind. Sie ist allerdings dynamisch, offen, teilweise modular zusammengesetzt und nicht autonom, was aus ihrem Systemcharakter nicht ableitbar oder sogar damit nicht zu vereinbaren ist. Der Systembegriff erfaßt auch das Wesen der Sprache nicht ganz, sondern trifft nur einen Aspekt davon, eben ihre Systematizität. Die Sprache ist wesentlich eine Tätigkeit. Sie ist durchaus durch die Eigenschaften charakterisiert, die wir von den anderen Sprachauffassungen als richtig übernommen haben, darunter auch die Systematizität. Alle diese Eigenschaften sind jedoch in ihrer Definition als Tätigkeit aufgehoben, die lautet: Sprache ist das unbeschränkte Schaffen interindividuell verfügbarer Bedeutungen.
1 Mit einem natürlichen Gegenstand ist ein in der Natur vorfindlicher Gegenstand gemeint, nämlich im Gegensatz zu einem vom menschlichen Geist abhängigen Gegenstand. Dieser Unterschied hat nur lose zu tun mit dem oben gemachten zwischen natürlichen vs. künstlichen/formalen Sprachen; dort ist mit ‘natürlich’ “nicht-künstlich” gemeint.
2 ‘Organ’ heißt Teil eines Lebendigen, das sich selbst und die anderen Teile des Gesamtorganismus hervorbringt, der bloß mechanisch-kausal (als Maschine) nicht zu erklären ist, sondern als bildende Kraft teleologisch, d.h. nach seiner Zweckmäßigkeit, zu verstehen ist. (Kant, Kritik der Urteilskraft 65).