Alles, was es auf der Welt gibt, läßt sich in zweierlei Hinsicht beschreiben. Entweder man macht eine Momentaufnahme des Gegenstandes und analysiert die Zusammenhänge seiner Komponenten untereinander und die Zusammenhänge zwischen dem Gegenstand und dem Rest der Welt. Oder man fragt sich für jede seiner Komponenten, wie sie so geworden ist und in welcher Richtung sie sich verändert, man vergleicht sie also mit ihrem früheren und späteren Zustand. Die erste Hinsicht ist statisch, die zweite dynamisch.
Die Beziehungen zu einem gegebenen Zeitpunkt können auch dynamischer Natur sein, wie z.B. ein Assimilationsprozeß, der Bestandteil eines Sprachsystems ist. Wenn die statische Hinsicht im Wortsinne eine Momentaufnahme ist, dürfte man, streng genommen, Prozesse nicht von Zuständen unterscheiden können. Tatsächlich sprechen aber auch Beschreibungen eines gegebenen Sprachstadiums von Prozessen. Es kommt bei der hier in Rede stehenden Unterscheidung weniger auf die Dynamizität der Verhältnisse als auf die zeitliche Perspektive in ihrer Analyse an. Daher nennt man diesen methodologischen Gegensatz in der Linguistik nicht ‘Statik vs. Dynamik’, sondern ‘Synchronie vs. Diachronie’. Zu diesen Begriffen s. anderswo.
In einem anderen Kapitel wird dargestellt, daß Variation im Wesen der Sprache liegt und in allen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen statthat. Jegliche dort besprochene Variation liegt allerdings in der synchronen Dimension. Man kann den Sprachwandel als diachrone sprachliche Variation konzipieren. Dies ist nicht lediglich eine terminologische Konvention. Vielmehr lenkt dieser Begriff die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß Sprachwandel und synchrone Variation eigentlich dasselbe Phänomen sind, nur eben betrachtet in verschiedener zeitlicher Perspektive. Jeder synchronen Variation entspricht eine diachrone Variation und umgekehrt. Die synchrone Verteilung von [ç] und [χ] ist das Resultat eines Lautwandels, welcher von den [χ] eines früheren Sprachstadiums einen Teil, der in einem bestimmten Kontext vorkam, in [ç] überführte. Und diese synchrone Variation wird ihrerseits die Vorstufe eines weiteren Wandels sein, der das Verhältnis zwischen den beiden Phonen anders regelt.
Die Frage, ob die synchrone Variation die Ursache des Sprachwandels oder eher seine Folge ist, ist natürlich die Frage nach der Henne und dem Ei. Synchrone und diachrone Variation sind nicht, um es zu wiederholen, zwei getrennte Objektbereiche, von denen einer für den anderen ursächlich oder sonstwie Voraussetzung sein könnte; sondern es sind zwei alternative Hinsichten auf sprachliche Variation.
Da die Begriffe ‘Synchronie’ und ‘Diachronie’ nicht dem Objektbereich, sondern der linguistischen Methodologie angehören, gibt es folglich auch keine rein synchronen bzw. rein diachronen Phänomene (Coseriu 1974:9). Man liest nicht selten, Bedeutungsverallgemeinerung, Grammatikalisierung, Reanalyse, Assimilation, Diphthongierung und dergleichen seien diachrone Prozesse. Da liegt eine Begriffsverwirrung vor. Ein jeglicher Prozeß ist wesensgemäß etwas, was in der Zeit abläuft, und somit wären dann alle Prozesse per definitionem diachron. Darauf bezieht sich aber der Gegensatz zwischen Synchronie und Diachronie nicht. Vielmehr gibt es in jedem synchronen Sprachstadium (Operationen und) Prozesse, und sie sind denjenigen wesensgleich, die einen Sprachzustand in einen anderen überführen. Mehr hierzu bei Coseriu (1974).
Betrachten wir ein Beispiel: Der Dativ Singular von maskulinen und neutralen Substantiven hatte seit alters bis ins Neuhochdeutsche hinein eine Endung -e. Heute würde man nicht mehr wie in sagen
. | a. | Ich habe dem Manne einen Fünfziger gegeben. |
b. | Wir brauchen dem Habichte kein Nest zu bauen. | |
c. | Erna folgte dem Kinde bis in den Keller. |
aber die entsprechenden Sätze im Mittelhochdeutschen hätten allesamt diese Dativendung enthalten, und auch Goethe und selbst Karl May haben sie in den meisten Fällen noch. Folglich hat hier ein Wandel stattgefunden: das Dativsuffix -e schwindet auf dem Wege ins moderne Deutsch.
In einem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang, da man die Errungenschaften des Strukturalismus in die historische Sprachwissenschaft trug und versuchte, die Diachronie auf die Synchronie zu reduzieren, hat man solche Phänomene so konzipiert, daß ein Sprachstadium mit Dativ-e von einem Stadium ohne Dativ-e abgelöst würde. Das ist aber eine Idealisierung, die die Natur der Sache verkennt. Ein solcher Wandel ist ja kein über Nacht passierender Verlust, so daß der Sprachgemeinschaft in einem Anfall kollektiver Amnesie über Nacht das Dativ-e abhanden käme und alle vom nächsten Morgen an in der starken Deklination nur noch endungslose Dative hätten. Vielmehr ist der Wandel in verschiedener Hinsicht graduell. Auf diesen Aspekt kommen wir unten noch zu sprechen. Im Moment ist nur wichtig, daß der Wandel überhaupt nur möglich ist, wenn es ein intermediäres Sprachstadium gibt, in dem der Sprecher entweder dem Mann oder dem Manne sagen kann, also Ausgangs- und Zielform des Wandels als Varianten zur Verfügung hat. Dem diachronen Prozeß ‘Verlust des Dativ-e’ entspricht also genau ein synchroner Prozeß ‘optionaler Verzicht auf das Dativ-e’ bzw. ‘'Setzung des Dativ-e nur unter bestimmten Bedingungen’. Synchrone Variation und Wandel sind so untrennbar wie die zwei Seiten einer Münze.
Und natürlich gibt es Beweise für die im Beispielfalle postulierte synchrone Variation. Auch heute kommt das Dativ-e nämlich durchaus noch vor, und zwar vor allem an einsilbigen Substantiven in festen Wendungen wie dem Manne kann geholfen werden, wie sag ichs meinem Kinde, dem oben gebrauchten auf dem Wege usw. Dieses beschränkte Vorkommen des Dativ-e im heutigen Deutsch ist das synchrone Erscheinungsbild einer diachronen Variation, die irgendwann mit dem ersten Wegfall des Suffixes an einem mehrsilbigen neutralen Substantiv in einer nicht-usuellen Wendung angefangen hat und eines Tages mit der völligen Unproduktivität des Suffixes und seiner nur mehr etymologischen Diagnostizierbarkeit in fossilen Wendungen wie zu Hause enden wird. Entsprechendes gilt für die anderen oben genannten “diachronen Prozesse” und überhaupt alle Prozesse auf dem Niveau der ‘langue’.
Damit ist gleichzeitig klar, daß es keinen Primat von Synchronie vor Diachronie oder umgekehrt gibt. Seit dem 19. Jh. liefern sich historische und deskriptive Linguisten – prominent z.B. Hermann Paul und Ferdinand de Saussure – immer wieder fruchtlose Polemiken über diese Frage. Sie ist von derselben Qualität wie die Frage, ob zunächst ein Wandel in der Frequenz von Ernas Teekonsum dawar und dieser ihren derzeitigen Teekonsum zum Ergebnis hatte, oder ob nicht eher Ernas Variation zwischen Kaffee- und Teekonsum die Voraussetzung dafür war, daß sie überhaupt ihren Teekonsum verändern konnte.
Alle natürlichen Sprachen wandeln sich ständig. Sowohl vom Standpunkt des Laien als auch von dem des Strukturalisten stellt sich die Frage, warum das so ist. Erstens scheint jede Sprache ganz gut zu funktionieren, so daß nicht einzusehen ist, warum sie anders wird. Zum zweiten – und dies ist besonders der strukturalistische Gesichtspunkt – ist eine Sprache zu einem gegebenen Zeitpunkt ein System. Wenn sich da etwas ändert, ist scheinbar die Systematizität nicht mehr gewährleistet. So kann man dazu kommen, Sprachwandel als etwas Destruktives zu sehen. Dies ist auch die im nichtfachlichen Publikum am meisten verbreitete Ansicht: jegliche Veränderung der bisher geläufigen Sprache ist Dekadenz.
Wir hatten jedoch schon in Kap. 2.6 gesehen, daß Sprache eine Tätigkeit ist, in die alle Menschen ständig involviert sind, die sie aber je unter ihren historischen Bedingungen individuell ausprägen. M.a.W., die einzelne Sprache (‘langue’) ist nichts Vorgegebenes, das von Sprechern jeweils nur vorgefunden und angewandt würde. Vielmehr ist die Sprachtätigkeit notgedrungen systematisch, und jede Sprache ist ein Produkt dieser ständigen Systematisierung (Näheres unten). Die Systematisierung aber findet unter sich wandelnden äußeren Bedingungen und mit bestimmten – immer neu festgesetzten – Zielen statt, führt also auch zu immer neuen Resultaten. Das heutige System ist dem gestrigen ähnlich, einerseits weil Verständigung Kontinuität, also eine Verständigungstradition voraussetzt, und andererseits, weil die Sprachgemeinschaft nicht in der Lage ist, eine Sprache von jetzt auf gleich auf einer tabula rasa zu etablieren. So ist das gestern Geschaffene immer Voraussetzung für das heute zu Schaffende, ermöglicht, bedingt und beschränkt es.
Ein Korollar der Verfallstheorie des Sprachwandels war, daß der Wandel, vor allem der Lautwandel, das grammatische System zerstört und daß die Sprecher dann, vor allem durch analogischen Wandel und durch Erneuerung, die Schäden notdürftig wieder flicken. Dagegen ist, seit Beginn des 20. Jh. (z.B. Horn 1921), auch die entgegengesetzte Auffassung vertreten worden, wonach der Sprachwandel Neues ohne Rücksicht auf Vorhandenes schafft, so daß das Vorhandene dann überflüssig und folglich vergessen wird. Beide Ansichten vereinfachen im Sinne einseitiger Monokausalität. In Wahrheit wird heute ein System geschaffen unter Benutzung des gestrigen Systems. In bestimmten Bereichen ist die Sprachgemeinschaft kreativ, in anderen Bereichen automatisiert sie das, was sie früher geschaffen hatte, und reduziert es also. Innovation und Reduktion finden also gleichzeitig und aufeinander abgestimmt statt. Sprachwandel ist gleichzeitig Zerstörung, Wiederherstellung und Neuerung.
Die Sprachtätigkeit ist nicht in erster Linie eine Reaktion auf Ursachen, also kausal bedingt, sondern ein Einsatz von Mitteln zu einem Zweck, also final bedingt. In diesem Rahmen ist auch der Sprachwandel zu verstehen. Ein englisches Lehnwort erscheint eines Tages im Deutschen, nicht weil das zu bezeichnende Ding plötzlich auftauchte und nur das Englische dafür eine Bezeichnung anbot, sondern zu dem Zweck, durch Benutzung englischer Wörter an dem Prestige dieser Sprache teilzuhaben.
Viel Sprachwandel passiert freilich auch als nicht eigens intendiertes Nebenprodukt der ständigen Systematisierung. Das unmarkierte Anredepronomen des heutigen brasilianischen Portugiesisch ist você. Es ist um die Wende zur Neuzeit aus vossa mercê “euer Gnaden” entstanden. Heute dient es der vertrauten Anrede. Dieser Wandel ist nicht das Resultat der Absicht, eine höfliche Anredeform herabzustufen. Im Gegenteil, die Sprecher wollten immer ihrem Gegenüber eine höfliche Anrede zukommen lassen und verwendeten deshalb alle die Form vossa mercê. Gerade dadurch wurde diese verallgemeinert und leistete nichts Besonderes mehr. Für diese Art von Sprachwandel hat man die Theorie der “unsichtbaren Hand” herangezogen (Keller 1994). Nach ihr ist der Sprachwandel das kausal bestimmte Ergebnis der Entscheidungen von Einzelnen. Jeder Einzelne hat nur die Ziele seines Sprechakts vor Augen; aber da sie alle egozentrisch handeln, haben ihre Handlungen gleichartige Konsequenzen. Aus der Akkumulation der Konsequenzen der Handlungen ergibt sich ein gemeinschaftliches Resultat, ob der Einzelne das nun beabsichtigt hat oder nicht. Vereinfacht gesagt: der Einzelne handelt final bestimmt; aber das gemeinsame Resultat aller Handlungen zusammen ist kausal bestimmt.1
Verschiedene Arten von Sprachwandel haben verschiedene Bedingungen. Gelegentlich werden spezifische Ursachen jeglichen Sprachwandels angegeben. Da ist von dem Ausdrucksstreben (oder Bemühen um Distinktheit) die Rede, welches – syntagmatische und paradigmatische – Distinktionen macht, und andererseits vom Streben nach Ökonomie (und dem “Prinzip des geringsten Aufwandes”), welches Paradigmen und Syntagmen vereinfacht. Es besteht kein Zweifel, daß dies in jeder Sprachtätigkeit wirkende Kräfte sind (Ronneberger-Sibold 1980). Dem Ausdrucksstreben ist es zu verdanken, wenn wir statt durch die Veränderungen eher infolge der Veränderungen sagen und wenn die alten Kastilier die lateinischen Vokale /e/ und /o/ zu /je/ und /we/ diphthongiert haben, wie in lat. tenes – span. tienes “du hältst” und lat. bonus – span. bueno “gut”. Das Streben nach Ökonomie dagegen hat dazu geführt, daß wir heute das Dativ-e überwiegend einsparen und daß wir die mittelhochdeutschen Diphthonge /ie/, /uo/, /ye/ zu /i:/, /u:/ und /y:/ monophthongiert haben, wie in mhd. bieten, fluot, güete – nhd. bieten, Flut, Güte.
Die Beispiele zeigen gleichzeitig, daß diese beiden Kräfte antagonistisch sind. Um distinkten Ausdruck bemüht sich der Sprecher um des Hörers willen; Ökonomie dagegen ist in seinem egoistischen Interesse. In jedem Sprechakt hat der Sprecher ein angemessenes Verhältnis zwischen den beiden Kräften herzustellen. Daraus folgt sogleich, daß man die beiden Kräfte nicht unmittelbar für den Sprachwandel verantwortlich machen kann. Denn da sie entgegengesetzt sind, erwachsen aus ihrem Bestehen keine kausalen Folgen. Je nach dem vorliegenden Wandel mal die eine, mal die andere ins Feld zu führen, hat natürlich keinen Erklärungswert. Die Begriffe ‘Ausdrucksstreben’ und ‘Ökonomie’ sind nützlich zur Beschreibung und zum Verständnis, nicht zur Erklärung.
Erst recht fehl am Platze sind strukturelle (und somit innersprachliche) Erklärungen des Sprachwandels, wie sie in den 50er Jahren des 20. Jh. bei der Übertragung strukturalistischer Ansätze in die historische Sprachwissenschaft versucht worden sind (z.B. Martinet 1955). Man betrachte z.B. folgenden Wandel im altgriechischen Vokalsystem (vgl. die ausführliche Darstellung): Zu Homers Zeiten bestanden das übliche Fünfvokalsystem (mit kurzen und langen Versionen für jede Vokalqualität) sowie diverse Diphthonge. Beim Übergang zum Griechischen Platons geschah (etwa im 6. Jh. v.Ch.) folgendes:
Das durch den Wandel #b entstehende /ū/ besetzt also den durch den Wandel #a freigemachten Platz. Nun gibt es zwei kausale Erklärungsansätze:
In diesem Falle gibt es keine historische Evidenz für eine der beiden Reihenfolgen. Selbst wenn es welche gäbe, so wäre nichts damit gewonnen. Denn nach jedem der beiden Erklärungsmodelle entsteht ein Zwischenstadium – nach dem ersten und vor dem zweiten Wandel –, das mit der angenommenen Systemanforderung nicht vereinbar ist, welches aber offenbar durch den ersten Wandel angesteuert worden ist. Welchen Erklärungswert hat dann die Systemanforderung? Die beiden Wandel hängen offensichtlich systematisch miteinander zusammen; die einfachste Annahme ist, daß sie gleichzeitig stattfinden. Sie können sich aber, aus logischen Gründen, nicht gegenseitig bedingen. Die Ursache für eine Eigenschaft des Systems ist nicht eine andere Eigenschaft des Systems, denn keine hat irgendeine Priorität vor einer anderen. Sie befinden sich einfach im Gleichgewicht.
Jede kausale Erklärung des Sprachwandels muß sich der Gretchenfrage stellen:
Wenn die Sprache, so wie sie heute ist, funktioniert, wieso bleibt sie dann morgen nicht genauso?
Alle kausalen Erklärungen prallen an dieser Frage ab (Coseriu 1974:58). Es gibt kein Zurück hinter Coserius Feststellung:
... auf die Frage, warum es ein System gibt, läßt sich nur die Antwort geben, daß das System existiert, weil es geschaffen wird. ... Und dieses letzte begreift ... mit ein, daß die Tätigkeit, durch die die Sprache geschaffen wird, selbst systematisch ist ... die Entwicklung der Sprache ... ist eine ständige Systematisierung. Und jeder Sprachzustand stellt eine systematische Struktur dar, gerade weil er ein Moment der Systematisierung ist. (Coseriu 1974:236)
Wenn man rückblickend Mittelhochdeutsch mit Neuhochdeutsch vergleicht, liegen die Unterschiede für jeden Nicht-Linguisten auf der Hand. Die beiden Sprachen sind nur gelegentlich wechselseitig verständlich. Insofern ist es keine Frage, daß Sprachwandel wahrnehmbar ist, genauer: daß seine Ergebnisse wahrnehmbar sind. Der jeweils gerade stattfindende Sprachwandel dagegen wird von den wenigsten wahrgenommen. Lange Zeit (vom Beginn des 19. Jh. bis ins 20. Jh. hinein, prominent z.B. in Paul 1920, §§9, 16) war man auch in der Linguistik der Auffassung, der Sprachwandel geschehe unbemerkt und unkontrolliert, gleichsam hinter unserem Rücken. Auffassungen wie die von der Sprache als Organismus leisteten dem Vorschub. Die Meinung, daß der Sprachwandel unbewußt stattfindet, ist immer noch weit verbreitet.
Wenn wir aber, wie gesagt, die Ergebnisse des Sprachwandels durchaus feststellen können, wieso bleibt dann der Sprachwandel selbst unbemerkt? Hier schloß sich die Erklärungshypothese an, daß der Wandel graduell bzw. kontinuierlich wäre.2 Bevor wir diese Hypothese bewerten, müssen wir klären, was sie genau bedeutet.3
Gradualität ist nicht dasselbe wie Kontinuität.
Folglich kann eine Variation graduell sein, ohne kontinuierlich zu sein. Nach der Definition möchte es scheinen, daß alle kontinuierliche Variation graduell ist. Aber der Punkt ist gerade, daß wenn Unterschiede zwischen adjazenten Varianten unendlich klein werden, keine Stufen mehr unterscheidbar sind. Wenn also der Sprachwandel in diesem Sinne kontinuierlich ist, ist er unmerklich.
Sprachwandel ist in mehrerem Sinne graduell. Neben der Zeit, die hier natürlich fundamental ist, sind die relevanten Dimensionen, die abgestuft werden können, die folgenden:
Daß Sprachwandel im Sinne von Nr. 1 und Nr. 3 graduell ist, ist völlig unstrittig. Theoretisch interessant ist die Gradualität im Sinne von Nr. 2. Viel Sprachwandel ist tatsächlich in diesem Sinne graduell. Das gilt vor allem für Grammatikalisierung. Die These, daß jeglicher Sprachwandel im Sinne von Nr. 2 graduell sei, ist jedoch keinesfalls haltbar. Z.B. ist analogischer Wandel grundsätzlich nicht graduell. Der Wandel, der die starke Konjugation in einem Verb durch die schwache, also z.B. wob durch webte ersetzt, ist zweifellos graduell im dritten und vermutlich im ersten, aber nicht im zweiten Sinne, denn der Unterschied zwischen den beiden Varianten bildet keine graduelle Proportion. Viel Lautwandel ist sicher graduell und womöglich sogar kontinuierlich; aber es kann keine Rede davon sein, daß dies für allen Lautwandel gälte. Trivialerweise ist z.B. die Metathese, wie in lat. periculum – span. peligro, nicht graduell.
Aller Sprachwandel ist graduell (und vermutlich kontinuierlich) in dem Sinne, daß er nicht als jähe Revolution in der ganzen Sprachgemeinschaft umgesetzt wird, sondern sich allmählich durch Raum und Gesellschaft verbreitet. Das betrifft die im vorigen Abschnitt eingeführte erste Dimension. In vergangenen Jahrtausenden war der Wandel im Raum höchstens so schnell wie die Verkehrsmittel. Im Zeitalter der Telekommunikation schrumpft der Raum, so daß es sein kann, daß die Diffusion eines Wandels durch den Raum nicht mehr in konzentrischen Kreisen vonstatten geht. Nichtsdestoweniger wird der Wandel nicht von allen Teilen der Sprachgemeinschaft im Gleichschritt umgesetzt; es gibt immer Vorreiter und Nachzügler.
Der Locus des Wandels ist die ‘parole’. Ein Wandel kommt dadurch in Gang, daß ein Sprecher eine Neuerung einführt und andere Sprecher sie übernehmen. Dabei geschieht die lexikalische Diffusion nicht so, daß zuerst ein geänderter Ausdruck und bei nächster Gelegenheit ein anderer im selben Sinne geänderter Ausdruck übernommen würde (also etwa erst Rad mit Auslautverhärtung und beim nächsten Mal auch noch Bad mit Auslautverhärtung, usw.); sondern derjenige, der den Wandel übernimmt, erkennt, daß der Sprecher ein neues Verfahren anwendet, übernimmt dieses Verfahren und wendet es auch selbst auf seine Ausdrücke an (Coseriu 1974:82).
Die synchrone und diachrone Variation ist, wie die Soziolinguistik feststellt, an alle möglichen sozialen Variablen gebunden. Für den Einzelnen besteht die Motivation zur Übernahme des Wandels oft darin, daß er so sprechen will wie die Gruppe, zu der er sich zählt. Neuerer sind Individualisten; sie wollen anders sprechen. Übernehmer sind Konformisten; sie wollen so sein wie die anderen. Natürlich hängt die Originalität eines Sprachwandels von der Kreativität der Neuerer ab. Aber der entscheidende Schritt liegt nicht in der Neuerung; die kann wirkungslos verpuffen; sondern er liegt in der Übernahme der Neuerung durch die Sprachgemeinschaft (Coseriu 1974:79-81).
Man hat auch die alternative Möglichkeit erwogen, daß der Locus des Sprachwandels die ‘langue’ sei. Genau gesagt, lehrt die generative Grammatik, daß das Kind, das seine Muttersprache lernt, sich aus dem, was es zu hören bekommt, auf der Basis seines “language acquisition device” ein Sprachsystem (eine “Kompetenz”) konstruiert. Es bekommt ja nicht das Sprachsystem der höheren Generationen vorgesetzt, so daß es dieses übernehmen könnte, sondern es muß die Daten, die an sein Ohr dringen, interpretieren. Da kann es nun sein, daß ihm auf die gehörten Daten eine andere Grammatik zu passen scheint als diejenige, die sich seine Altvorderen konstruiert hatten. Der Wandel findet also in den Köpfen der Sprache lernenden Kinder dadurch statt, daß sie ein neuartiges System konstruieren.
Diese Erklärung verfehlt ihr Ziel gleich mehrfach:
In kleinerem Maßstab, nämlich als eine bestimmte Art grammatischen Wandels, kommt der geschilderte Mechanismus der Umkonstruktion grammatischer Verhältnisse tatsächlich vor; der Begriff dafür ist Reanalyse. Ob freilich für die tatsächlich stattfindenden Reanalysen überwiegend sprechen lernende Kinder verantwortlich sind, bliebe festzustellen.
Das Sprachsystem ist der systematische Aspekt an der Sprachtätigkeit. Es ist eine historisch konventionelle Ausprägung der Formung von Significantia und Significata und ihrer Assoziation miteinander. Daneben hat die Sprache noch andere Aspekte, die in einem anderen Kapitel unter der Bezeichnung ‘Umfeld’ zusammengefaßt sind. Dazu gehören u.a. die Phonetik mit Sprechmelodien und Aussprachegewohnheiten, die Pragmatik mit Implikaturen und Konnotationen, die Ethnographie der Kommunikation mit den Kommunikationskonventionen einschließlich Honorifikation, Sprachwechsel und Spracheinstellungen.
Beide Aspekte der Sprache – System und Umfeld – sind dem Wandel ausgesetzt; von beiden läßt sich folglich Geschichte schreiben. Nach diesem Kriterium zerfällt die Geschichte einer Sprache in
Die innere Sprachgeschichte zerfällt traditionell in Lautwandel, grammatischen Wandel und lexikalischen Wandel. Der semantische Wandel (soweit er das Significatum betrifft) würde noch dazugehören. Die äußere Sprachgeschichte umfaßt die relevante Geschichte der Sprachgemeinschaft, den Kontakt mit anderen Sprachen, die Entwicklung der Sprachkultur, insbesondere der schriftlichen Kommunikation und dergleichen mehr.
Gesetze im linguistischen Sinne kann man im Sprachwandel nur erwarten, soweit er das Sprachsystem betrifft. Daher gibt es neben der Sprachgeschichtsschreibung die Disziplin der diachronen Linguistik, die Gesetze des Sprachwandels sucht, und sie entspricht ausschließlich der inneren Sprachgeschichte. Sie geht, soweit sie induktiv arbeitet, methodisch wie folgt vor:
Z.B. gibt es im Altgriechischen einen Wandel, in dem antevokalisches /s/ zu /h/ wird, wie in lat. sex ~ griech. heks “sechs”. Das ist also ein Fall von ‘s → h / __ V’. Und es gibt im Andalusischen einen Wandel, in dem silbenauslautendes /s/ zu /h/ wird, wie kastil. quiosco ~ andalus. [ki'ohko] “Kiosk”. Das ist also ein Fall von ‘s → h / __ •’. Dies sind natürlich verschiedene phonologische Prozesse. Sie lassen sich aber unter den allgemeineren Prozeß ‘s → h’ subsumieren. Zu dessen Gesetzescharakter kehren wir unten zurück.
In jeder ‘langue’ gibt es universale und spezifische Aspekte. Trivialerweise sind nur die letzteren dem Wandel unterworfen. Aber auch in diesem Wandel gibt es wiederum Universalien. Das können keine absoluten Universalien sein. Denn die hätten ja die Form ‘Für alle Sprachen gilt: X wird zu Y’. Solche Transformationen können als synchrone phonologische Regeln, die eine zugrundeliegende Repräsentation in eine phonetische Repräsentation überführen, universal sein, aber nicht als diachrone Prozesse. Denn als solche würden sie besagen, daß wo immer eine Sprache X hat, Y daraus wird. M.a.W., sie würden auf die Behauptung hinauslaufen, daß keine Sprache X hat. In der Tat gibt es synchrone Universalien dieser negativen Form; aber es hat keinen Sinn, sie als diachrone Universalien des Typs ‘X wird zu Y’ zu formulieren.
Es gibt folglich keine absoluten, sondern nur implikative diachrone Universalien. Es sind die diachronen Fassungen synchroner implikativer Universalien. Gegeben ein implikatives Universale wie ‘wenn eine Sprache Numerus im Substantiv hat, hat sie auch Numerus im Pronomen’, so besagt seine Projektion auf die diachrone Achse, daß
Von solchen diachronen implikativen Universalien gibt es zwei Arten. Die erste wird illustriert durch Sätze wie:
Im zweiten Typ ist das nicht so; ein Trial entsteht nicht aus einem Dual, der nominale Numerus entsteht nicht aus dem pronominalen Numerus. Sondern Dual und Trial entstehen je aus ihrer Quelle, und dito nominaler und pronominaler Numerus. Der Zusammenhang zwischen Implikans und Implikatum ist hier also kein genetischer, sondern er beruht auf dem Prinzip der einseitigen Fundierung.
Diese beiden implikativen Zusammenhänge sind also ganz verschieden motiviert. Im ersten Falle benötigt das Implikans das Implikatum zum Entstehen, im zweiten benötigt es das Implikatum zum Funktionieren. Das bedeutet aber, daß der genetische Zusammenhang im engeren Sinne einer der zeitlichen Priorität ist. M.a.W., aus der genetischen Motivation folgt nicht, daß das Implikatum fortbestehen muß, nachdem einmal das Implikans daraus entstanden ist, oder daß der Verlust des Implikatums den des Implikans voraussetzt. Und tatsächlich findet man zu den genetisch motivierten implikativen Universalien auch (synchrone) Ausnahmen. Zu obiger Generalisierung über die Präpositionen gibt es so viele Ausnahmen, daß sie als synchrones Universale nicht haltbar ist. Die Ausnahmefälle, etwa das Litauische, haben gemeinsam, daß die Sprachen zwar einmal sei es NG-Stellung, sei es VO-Stellung hatten und zu der Zeit aus den N bzw. V Präpositionen grammatikalisiert haben, daß sie aber später die Konstituentenstellung auf jener höheren syntaktischen Ebene geändert haben (in GN bzw. OV). Bekanntlich ist es gemäß dem Penthouse-Prinzip nicht so schwer, die Stellung auf den höheren Ebenen zu ändern, während die Stellung auf den niedrigeren Ebenen oft so verfestigt ist, daß man sie nicht mehr ändern kann.
Hieraus folgt, daß die genetisch bedingten implikativen Universalien zwar für den Sprachwandel interessant sind, aber synchron betrachtet oft gar keine Universalien sind, während die durch einseitige Fundierung bedingten implikativen Universalien meist ausnahmslos sind, aber über das diachrone Schicksal der involvierten Kategorien oft nichts lehren.
Ein Wandel führt von einem Ausgangszustand zu einem Zielzustand. In einem ersten Stadium hatte das Altgriechische einen Satz stimmlose aspirierte Okklusive (/ph/ usw.). In einem späteren Stadium hatte es an derselben Systemstelle die entsprechenden stimmlosen Frikative (/f/ usw.). Eine für die Sprachwandeltheorie wichtige Frage ist, ob der umgekehrte Prozeß auch vorkommt. Der Wandel von aspirierten Okklusiven zu Frikativen ist historisch bezeugt. Ist der umgekehrte Wandel ebenfalls bezeugt? Falls nein, schließt die Theorie des Lautwandels ihn aus? Ist Sprachwandel umkehrbar oder unumkehrbar (unidirektional oder irreversibel); oder unterscheiden sich die Wandelprozesse in diesem Punkte?
Ein unidirektionaler Prozeß ist ein solcher, dessen Konverse nicht vorkommt. Genauer:
Sei P ein Prozeß, der von einem Anfangsstadium S1 zu einem Endstadium S2 führt; dann ist P unidirektional gdw. es keinen Prozeß P' gibt, der von S2 nach S1 führt.
Auf dem Hintergrund dieser Definition ist es nun eine empirische Frage, ob aller oder einiger Sprachwandel unidirektional ist.
Zunächst muß ein mögliches Mißverständnis ausgeräumt werden: Es geht hier um diachrone, nicht um historische Prozesse. Geschichte ist unumkehrbar; das ist eine Binsenweisheit, die in der Redensart vom Zurückdrehen des Rades der Geschichte zum Ausdruck kommt. Die Frage ist nicht, ob das Griechische, das die Serie von Frikativen hat, diese wieder zu den aspirierten Okklusiven zurückwandeln kann. Das kann es nicht, weil die Rahmenbedingungen, die seinerzeit im Stadium der aspirierten Okklusive herrschten, nicht mehr bestehen.
Die Frage ist also eine systematische. Zuerst muß die diachrone Linguistik die historisch vorkommenden Wandelprozesse Typen diachroner Prozesse zuordnen. Dann können wir deren Konversen konstruieren und im Objektbereich danach suchen. Es gibt, wie oben gesehen, ‘/s/ → /h/’; gibt es auch ‘/h/ → /s/?’ Die Antwort ist in diesem Falle ein klares Nein.
Dabei wird sofort eine methodologische Schwierigkeit deutlich, mit der die Fragestellung behaftet ist: Irreversibilität eines Prozesses schließt die Behauptung der Nichtexistenz in einem unendlichen Universum ein, und solche Behauptungen sind nicht beweisbar. Irreversibilität ist also nicht beweisbar; aber man kann sie natürlich statistisch plausibilisieren und ggf. theoretisch begründen.
Nähere Betrachtung zeigt, daß die Sprachwandelprozesse sich in diesem Punkte unterscheiden. Lassen wir zunächst kurz die fundamentalen Arten des grammatischen Wandels Revue passieren:
Wenn wir nunmehr den Blick auf Sprachwandel außerhalb der Grammatik weiten, können wir vernünftigerweise fragen, welche Arten des semantischen und phonologischen Wandels unidirektional sind und welche nicht. Im Falle des semantischen Wandels wird man sich immer mit Tendenzen zufriedengeben müssen. Dies zugestanden, so besteht eine Tendenz, daß Metapher unidirektional ist, nämlich vom Konkreten zum Abstrakten und weniger häufig in umgekehrter Richtung verläuft (Campbell 2001:135 gibt für letzteres das Beispiel von engl. do). Für Metonymie ist der Fall noch unklarer, denn den zahlreichen Fällen von Pars-pro-toto (wie engl. three heads of cattle) steht eine nicht-vernachlässigbare Anzahl von Totum-pro-parte-Umdeutungen gegenüber (wie Frankreich gewann 5:4). Und was ferner die traditionellen Begriffe des semantischen Wandels angeht, so gibt es sowohl Fälle von Bedeutungsverallgemeinerung als auch welche von Bedeutungsverengung, sowohl Fälle von Melioration als auch welche von Pejoration. Fazit: Einige Formen des semantischen Wandels verlaufen vorzugsweise in einer Richtung; aber ausnahmslos unidirektionaler semantischer Wandel wurde noch nicht gefunden.
In der Phonologie haben einige Prozesse ziemlich präzise konverse Gegenstücke. So kommen Synkope und Anaptyxe in genau denselben Umgebungen vor, und manchmal wird sogar ein Vokal, der in einem Stadium der Sprachgeschichte synkopiert wurde, in einem späteren Stadium wieder hergestellt. Monophthongierung und Diphthongierung werden normalerweise in unbetonten bzw. betonten Silben angewandt; sie können aber auch dieselben Paare von Monophthong und Diphthong in denselben Umgebungen in beiden Richtungen aufeinander beziehen. Der Fall der Assimilation und Dissimilation ist weniger klar, denn sie treten anscheinend nicht in derselben Umgebung auf. Andere phonologische Prozesse sind klärlich unumkehrbar. Dazu zählt der schon erwähnte Wandel ‘s → h’; das Umgekehrte ist nicht bezeugt. Und ebensowenig hat man je die Konverse zur silbenfinalen Verstimmlosung (meist Auslautverhärtung genannt) beobachtet. Fazit: Einige Arten von phonologischem Wandel sind umkehrbar, andere sind unidirektional.
Mit der teilweisen Ausnahme von Grammatikalisierung ist die Umkehrbarkeit diachroner Prozesse noch nicht systematisch untersucht worden. Eine Herausforderung für künftige Forschung wird es sein, den Begriff der Umkehrbarkeit auszudifferenzieren; z.B. nach Kriterien, wie die folgenden Beispiele sie andeuten:
Wenn die Unidirektionalität eines Prozesses oder Prozeßtyps empirisch festgestellt (d.h. nicht falsifiziert) ist, kann man zu ihrer Erklärung schreiten. Im Falle der Grammatikalisierung gibt es Ansätze dazu (vgl. Haspelmath 1999). Ein wichtiger Aspekt in einer möglichen Erklärung ist, daß Grammatikalisierung Verlust von Information involviert. Informationen können im Nirgendwo verschwinden, aber sie können nicht nirgendwo herkommen. Grammatikalisierung involviert Bedeutungsverallgemeinerung, also Verlust semantischer Komponenten. Bedeutungsverallgemeinerung passiert von alleine, sie braucht keine günstigen Bedingungen. Bedeutungsverengung (Zuwachs an semantischen Merkmalen) passiert nur unter bestimmten Bedingungen, z.B. wenn ein Merkmal im syntaktischen, semantischen oder pragmatischen Kontext vorhanden ist und von dort auf die betreffende sprachliche Einheit übertragen werden kann. Wenn es keinen Mechanismus gibt, der solche Übertragung eines Merkmals garantiert, gibt es kein allgemeines Prinzip für Bedeutungszuwachs. Das würde erklären, warum es keine Degrammatikalisierung gibt.
Innovation (“Neuerung”) ist die Einführung von etwas, was es bisher nicht gab. Renovation (“Erneuerung”) ist die Umgestaltung von etwas Existentem. Z.B. hat sich das Mittelenglische den progressiven Aspekt (die sog. Verlaufsform) zugelegt. Das ist eine verbale Kategorie, die es im Urgermanischen nicht gab und die infolgedessen zu der Zeit, da das Englische sie einführte, in den germanischen Nachbarsprachen fehlte. Die Verlaufsform war folglich eine Neuerung des Englischen. Das Westgermanische hatte einen universalen Subordinator (engl. complementizer) the, der Komplementsätze einleitete. Er existiert noch im Althochdeutschen, wird dort aber durch das umgedeutete Demonstrativum thaz ersetzt. Der neue Subordinator hat dieselbe Distribution und dieselbe Funktion wie der bisherige; das Ergebnis des Wandels beschränkt sich darauf, daß der Subordinator nun anders lautet. Dieser Wandel besteht also in der Erneuerung eines vorhandenen grammatischen Operators.
Natürlich ist auch Neuigkeit etwas Relatives und Graduelles. Etwas ist neu in bezug auf den Horizont, bis zu dem man blickt. Das Deutsche führt derzeit einen Progressiv ein (Typ bin am arbeiten). In der deutschen Sprachgeschichte ist das eine Neuerung, weil es in den letzten 1.500 Jahren im Hochdeutschen nichts Vergleichbares gab. Man braucht allerdings bloß die deutschen Dialekte, z.B. das Rheinfränkische, einzubeziehen, um eine seit einigen Jahrhunderten bestehende Verlaufsform zu sehen, von anderen westgermanischen Sprachen wie insbesondere Englisch zu schweigen, die sie noch länger haben. In den Sprachen der Welt ist der Progressiv eine ziemlich verbreitete Kategorie, und er basiert diachron häufig gerade wie im Englischen und Deutschen auf einer Periphrase, die die Kopula mit einer nominalen Form des Vollverbs in einer lokalen Funktion kombiniert. Etwas kann also für eine gegebene Sprache ein Novum sein, was anderswo in der Welt wohlbekannt ist.
Coseriu, Eugenio 1974, Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. Übersetzt von Helga Sohre. München: W. Fink (Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik, 3).
Haspelmath, Martin 1999, "Why is grammaticalization irreversible?" Linguistics 37(6):1043-1068.
Horn, Wilhelm 1921, Sprachkörper und Sprachfunktion. Berlin: Mayer & Müller (2. Aufl.: Leipzig: Mayer & Müller, 1923 (Palaestra, 135)).
Keller, Rudi 1994, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen: Francke (UTB, 1567) (2. überarb. u. erw. Aufl.)
Lehmann, Christian 2005, "Theory and method in grammaticalization." Diewald, Gabriele (ed.), Grammatikalisierung. Berlin: W. de Gruyter (Zeitschrift für Germanistische Linguistik, Themenheft); 000-000.
Martinet, André 1955, Économie des changements phonétiques. Bern: Francke.
Ronneberger-Sibold, Elke 1980, Sprachverwendung - Sprachsystem. Ökonomie und Wandel. Tübingen: M. Niemeyer (Linguistische Arbeiten, 87).
1 Ein außerlinguistisches Beispiel für denselben Mechanismus ist die Inflation: Sie ist das Ergebnis einer Menge von Entscheidungen Einzelner, die darauf zielten, mehr Geld einzunehmen. Die Menge dieser Entscheidungen führt dazu, daß das Geld weniger wert wird, eben zur Inflation. Dieses Ergebnis ist eine notwendige kausale Folge des Verhaltens all der Einzelnen, ohne von ihnen beabsichtigt worden zu sein.
2 Natürlich wurde auch das Leibnizzitat natura non facit saltus “die Natur macht keine Sprünge” bemüht. Aber die hier implizierte Subsumption sprachlicher Phänomene unter Naturphänomene ist nicht statthaft. Soweit Wandel sowohl in der Sprache als auch in der Natur graduell bzw. kontinuierlich ist, muß es sich um eine Gemeinsamkeit auf höherer Abstraktionsebene handeln.
3 Mehrere Passagen dieses Kapitels sind Übersetzungen aus Lehmann 2005.