Wie bereits oben gesehen, kann man den Wandel einer lexikalischen Einheit nicht in Isolation, sondern muß ihn im systematischen Zusammenhang betrachten. Die strukturale Linguistik konzentriert sich auf paradigmatische Relationen, die strukturale Semantik auf paradigmatische lexikalische Relationen; daher konzentriert sich die diachrone strukturale Semantik auf den Wandel der paradigmatischen lexikalischen Relationen, anders gesagt, auf den Wandel in Wortfeldern. Dafür folgen hier einige Beispiele.
Phänomene der dritten Art sind bereits als Entstehung von Homonymie durch semantische Divergenz behandelt worden. Es folgen einige etwas anders gelagerte Beispiele:
Original | Ergebnis | ||||
Sprache | Ausdruck | Bedeutung | Sprache | Ausdruck | Bedeutung |
ae. | thorough | durchgehend | ne. | thorough | gründlich |
---|---|---|---|---|---|
through | durch | ||||
ae. | of | weg von | ne. | off | weg (von) |
of | von | ||||
ae. | one | éin | ne. | one | éin |
a(n) | ein | ||||
lat. | homine | Mensch | frz. | homme | Mensch |
on | man | ||||
Die Beispiele zeigen die Abspaltung eines grammatischen Formativs von einem Wort, das außerdem als lexikalisches Wort weiterexistiert. Dies ist, unter einem anderen Gesichtspunkt, Grammatikalisierung des jeweils zweiten Mitglieds des Paars.
Die lexikalischen Oppositionen können nach derselben Systematik beschrieben werden, die auch für die morphologischen Oppositionen gilt. In diesem Abschnitt geht es um die Dynamik dieser Oppositionen.
Zwei Sprachstufen können sich dadurch unterscheiden, daß die eine zu einem gegebenen Begriff zwei Hyponyme hat, die nach einem bestimmten Merkmal unterschieden sind, während die andere diese Unterscheidung nicht aufweist. Wenn die beiden Zustände in dieser Reihenfolge aufeinander folgen, spricht man von Zusammenfall der Opposition. Ist umgekehrt die Unterscheidung sekundär, spricht man von Differenzierung. Es folgen Beispiele (nach Coseriu 1964):
Original | Resultat | Bemerkung | ||||
Spr. | Ausdruck | Bedeutung | Sprache | Ausdruck | Bedeutung | |
lat. | ater | (matt-)schwarz | - | |||
niger | (glänzend-)schwarz | gemeinrom. frz. | negro noir | schwarz | Ausweitung von niger | |
lat. | avunculus | Onkel mütterlicherseits | frz. | oncle | Onkel | Ausweitung von avunculus |
patruus | Onkel väterlicherseits | - | ||||
lat. | avunculus | Onkel mütterlicherseits | span. | tío | Onkel | Verlust einer Oppositon ohne Ausweitung |
patruus | Onkel väterlicherseits |
Zwischen lat. ater und niger bestand eine privative Opposition, mit niger als markiertem Glied. Es verliert also durch Generalisierung die Marke, wird so koextensiv mit dem unmarkierten und verdrängt dieses.
lat. | ater | niger |
---|---|---|
frz. | noir |
Zwischen lat. avunculus und patruus bestand eine äquipollente Opposition. Auch hier verliert eines der Glieder (avunculus) das distinktive Merkmal und verdrängt das andere.
lat. | avunculus | patruus |
---|---|---|
frz. | oncle |
In den Fällen von gemeinrom. negro und frz. oncle nimmt der übrigbleibende Term durch den in Kap. 4.2 besprochenen Prozeß der Bedeutungsverallgemeinerung = Merkmalreduktion die Systemposition des vormals bestehenden Paars ein. Im Falle von span. tío ersetzt ein aus anderer Quelle (Griechisch) eingeführter Term das ganze Paar.
Original | Resultat | Bemerkung | ||||
Sprache | Ausdruck | Bedeutung | Sprache | Ausdruck | Bedeutung | |
lat. | avis | Vogel | span. | ave | großer Vogel | Spezialisierung von avis |
(passer) | (Spatz) | pájaro | kleiner Vogel | Ausweitung von passer |
Hier wird im Spanischen eine Opposition zwischen “großer Vogel” und “kleiner Vogel” eingeführt, indem die Bedeutung desjenigen Worts, das ehedem einfach “Vogel” bedeutete, eingeengt wird, während ein anderes, teilsynonymes Wort durch Bedeutungsverallgemeinerung die dadurch aufgetane paradigmatische Lücke besetzt.
lat. | avis | |
---|---|---|
span. | ave | pájaro |
Die semantischen Mechanismen dieser Strukturverschiebungen im Lexikon sind die bereits eingeführten Formen des Bedeutungswandels, vor allem Bedeutungsverallgemeinerung und Bedeutungsverengung.
In folgendem Falle geht von einer äquipollenten Opposition ein Term (vir) verloren, und das Hyperonym (homo) springt dafür ein. Im Italienischen wird die Bedeutung von lat. domina “Herrin” zu der von donna “Frau” ausgeweitet.
lat. | homo | |
---|---|---|
vir | femina |
frz. ital. |
homme uomo |
femme donna |
---|
Im Ergebnis wird eine äquipollente zu einer privativen Opposition.
Wenn bei gleichbleibendem Designatum bloß die Zeichen ersetzt werden, spricht man auch von onomasiologischem Wandel. Wenn bei gleichbleibendem oder mindestens diachron identischem Significans die Bedeutung sich wandelt, spricht man auch von semasiologischem Wandel. Die Begriffe und Termini basieren auf dem allgemeinen Verhältnis von Onomasiologie und Semasiologie.
Latein | → | Französisch | ||
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Ausdruck | Bedeutung | Ausdruck | Bedeutung | |
equus | Pferd | ⇘ | - | |
equa | Stute | - | ||
caballus | Mähre | ⇒ | cheval | Pferd |
iumentum | Pack-/Zugtier | jument | Stute |
Die lateinischen Wörter equus und equa haben im Französischen keine etymologischen Fortsetzer. Ihre Bedeutungen werden von cheval bzw. jument ausgedrückt. Dieser Ersatz ist ein Fall von onomasiologischem Wandel.
Die französischen Wörter cheval und jument gehen ihrerseits auf lateinische Wörter zurück, die verwandte Bedeutungen hatten. Sie treten in die von equus/equa freigemachten Feldpositionen ein, indem sie ihrerseits einem semasiologischen Wandel ausgesetzt sind.
Ein anderes Beispiel von onomasiologischem Wandel ist der Ersatz von lat. occidere > afrz. occire “töten” durch frz. tuer "töten".
Onomasiologischer Wandel ist, als solcher betrachtet, zwar ein lexikalischer, aber eigentlich kein semantischer Wandel, weil die Bedeutung ja erhalten bleibt. Semasiologischer Wandel dagegen ist semantischer Wandel.