Regelmäßigkeit des Lautwandels

Lautgesetze

Der Terminus ‘Lautgesetz’ ist im 19. Jh. von den Junggrammatikern geprägt worden. Er bezeichnet einen bestimmten Lautveränderungsprozeß, der zeitlich, räumlich und auf bestimmte Laute begrenzt ist, also kein allgemein diachrones phonetisches Gesetz. Vorgänge solcher Spezifizität hat man in anderen Bereichen (z.B. der Morphologie) nie Gesetz genannt; insofern ist der Terminus einigermaßen irreführend.

Eine große Rolle für die zugrundeliegende positivistische Konzeption spielt die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. Sie wird zurückgeführt auf das “blinde Wirken” des Lautwandels. Man dachte dabei nur an spontanen oder phonologisch konditionierten Lautwandel, der ohne Rücksicht auf Morphologie und Bedeutung wirkt. Dieses Postulat war für die Junggrammatiker als methodische Basis der Rekonstruktion wichtig.

Zum Beispiel: Gegeben den Prozeß des lateinischen Rhotazismus, so kann man folgendes schließen: Wenn im Lateinischen die Sequenz ‘VsV’ vorliegt, dann kann sie nicht auf vorlateinisch ‘VsV’ zurückgehen. Stattdessen wäre z.B. vorlateinisch ‘VKsV’ oder ‘V#sV’ möglich. So geht etwa lat. causa “Grund” auf archaisch-lateinisch caussa zurück.

Tatsächlich ausnahmslos sind i.a. Verluste wie etwa der Verlust des /h/ im Latein und Wandel mit wenigen, einfachen Bedingungen wie hdt. s → ʃ / #__K.

Wenig regelmäßig sind Wandel mit komplexen Bedingungen. Z.B. die altgriechische Hauchdissimilation verlangt: Stehen im Ansatz von zwei aufeinanderfolgenden Silben aspirierte Okklusive, so wird der erste [- aspiriert]. Formalisiert:

[+ okkl][- asp]/• __ X • [+ asp]
*tʰítʰēmitítʰēmi“setze”
*tʰrikʰóstrikʰós“Haares”

*pʰátʰipʰátʰi“sprich”

Hierzu gibt es zahlreiche Ausnahmen wie die zuletzt aufgeführte.

Sporadischer Lautwandel

Gewisse Lautwandel sind notorisch unregelmäßíg: Dissimilation, bes. Ferndissimilation, Metathese, Epenthese, Anaptyxe, Haplologie. Häufig sind Liquiden und Nasale beteiligt, die immer unstabil sind und auch in Versprechern häufig in solchen Prozessen vorkommen. Solche Lautwandel sind sporadisch, d.h. nicht nur unregelmäßig, sondern auch nicht an Ort und Zeit gebunden.

Diachrone phonologische Universalien

Im Gegensatz zu einem Lautgesetz ist ein diachrones Universale tatsächlich ein allgemeines Gesetz, wie in Morphologie und Syntax. Besonders wichtig sind die implikativen Gesetze. Beispiele:

  1. Wenn Li den Nasalvokal V͂j hat, hat Li-1 die Sequenz VjN gehabt.
  2. Bevor L vordere gerundete Vokale erwirbt, muß L hintere gerundete Vokale haben.
  3. Bevor L aspirierte Konsonanten erwirbt, muß L /h/ haben.

Das zweite und dritte Beispiel sind diachrone Versionen synchroner implikativer Generalisierungen, die auf Markiertheit basieren. Sie sind auch anwendbar auf rekonstruierte Sprachstufen.

Es kann zwar nicht gesagt werden, ob und wann der Wandel eintritt, seine Richtung liegt aber fest. Die Tendenz ist nicht selbst eine Erklärung, sondern ihrerseits erklärungsbedürftig. Dazu kann man Rekurs auf physiologische Bedingungen, funktionelle Gesetze, fremd- oder außersprachlichen Einfluß nehmen.

Gradualität des Lautwandels

Viel Lautwandel ist in mehreren Hinsichten graduell bzw. kontinuierlich:

1. Er ist phonetisch bzw. "physikalisch" kontinuierlich, wenn das phonetisch möglich ist. Beispiele:

Metathese und Haplologie sind natürlich sprunghaft.

2. Er verbreitet sich graduell über die Individuen einer Gruppe, und somit auch geographisch (geographische Diffusion).

Bsp.: Isophonen der 2. Lautverschiebung:

3. Die Kontextbedingungen der phonetischen Veränderung fallen schrittweise, bis im Extremfall alle Vorkommen ersetzt werden. A posteriori sieht er dann aus wie ein "spontaner" Lautwandel.

Er erfaßt die Wörter, welche die phonologischen Bedingungen erfüllen, nacheinander (lexikalische Diffusion). Zwischenstadien sind völlig irregulär. Manche Wörter bleiben auch nach Abschluß des Lautwandels unerfaßt.

Chronologie von Lautwandeln

Jeder Lautwandel hat eine begrenzte zeitliche Gültigkeit. Phonologische Einheiten, die nach seinem Abschluß in der Sprache entstehen, sind ihm nicht mehr unterworfen. Beispiele:

Wörter wie die angeführten sind also keine Evidenz gegen das entsprechende Lautgesetz. Ganz im Gegenteil kann man sie ggf. als Evidenz verwenden, um die relative Chronologie von Wandeln zu erschließen. In dem ersten obigen Beispiel ist ital. chi durch Verlust des /w/ aus lat. qui entstanden. In letzterem steht der Velar nicht vor vorderem Vokal, so daß er der Palatalisierung nicht unterliegt. Aus solchen Verhältnissen kann man – auch in Abwesenheit einschlägiger historischer Evidenz – schließen, daß erst die Palatalisierung und dann der Verlust von /w/ nach /k/ stattgefunden haben muß. Wäre es nämlich umgekehrt gewesen, hätte /ki/ “wer” Input für die Palatalisierung sein und folglich zu /ʧi/ gewandelt werden müssen.

Gegeben zwei Lautwandel L1 und L2, derart daß

L1: A → B

L2: B → C

Dann füttert L1 L2.

Z.B. würde der genannte Schwund von /w/ die Palatalisierung gefüttert haben, wenn er denn vor dieser stattgefunden hätte.

Gegeben zwei Lautwandel L1 und L2, derart daß

L1: A → B

L2: A → C

Dann läßt L1 L2 zur Ader.

Z.B. läßt der Schwund von /g/ nach [ŋ] im Hochdeutschen (vgl. dt. Finger mit engl. finger) die Auslautverhärtung zur Ader. Denn er tilgt z.B. das /g/ in Ding, so daß die Auslautverhärtung es nicht mehr vorfindet und in [k] wandeln kann. Mehr dazu unter Regelordnung.

Manchmal passiert es, daß während Lautwandel L1 noch wirksam ist, ein anderer Lautwandel L2 eintritt, dessen Output Input für L1 wird, der L1 also füttert.

LateinUrroman. Altspan.
L1aw → o
L2al → aw
Bsp.alteroawtrootro

Im Beispiel ist L1 die vulgärlateinische Monophthongierung. L2 ist die Halbvokalisierung eines /l/ (via velares /l/) im Silbenreim. Wie das Beispiel zeigt, wird vulgärlat. altero von L1 noch erfaßt, obwohl die Halbvokalisierung später einsetzt. Diese "füttert" also die Monophthongierung noch. Lat. alto und calvo werden von L1 jedoch nicht mehr erfaßt [unklar, ob L2 auf sie angewandt wurde].

Das synchrone Erscheinungsbild der relativen Chronologie von Lautwandeln ist die Regelordnung.

Soziolinguistik des Lautwandels

Auf eine bestimmte Weise zu sprechen bedeutet immer auch, wie Leute eines bestimmten Typs zu sprechen. Wer auf eine bestimmte Weise spricht, trifft damit – bewußt oder unbewußt – eine Wahl. Deshalb hat Lautwandel nach Labov (1963 und öfter) immer mit der Identifikation von sozialen Gruppen zu tun.