Aktives Lesen

Lesen gilt allgemein – i.Ggs.z. Schreiben – als ein rein rezeptiver Vorgang. Das ist es in keinem Falle, denn zum Begriff des Lesens gehört jedenfalls das Verständnis. Das Verständnis eines Textes ist aber eine Konstruktionsleistung.

Nichtsdestoweniger kann man beim Lesen verschieden hohe eigene Aktivität entwickeln. Dies richtet sich in erster Linie nach dem Ziel, das man mit der Lektüre verfolgt, in zweiter Linie nach der Art des Textes:

  1. Ziel der Lektüre:
  2. Art des Textes:

Texte, die man kognitiv systematisch weiterverarbeiten und später noch einmal nutzen will, liest man anders als Unterhaltungstexte. Die methodische Lektüre wissenschaftlicher Literatur ist umso wichtiger, als sie viel Zeit kostet, jedoch nicht in unmittelbar präsentable Ergebnisse mündet, so daß es sinnvoll ist, ökonomisch vorzugehen. Daher folgen hier einige Hinweise zur aktiven Lektüre.

Zu allen wissenschaftlichen Themen, die man untersuchen wollen kann, gibt es mehr zu lesen, als man schaffen kann. Es kommt zwar vor, daß ein spezifischer Objektbereich noch nie – oder häufiger: noch nie unter einem bestimmten Aspekt – untersucht worden ist. Aber zu seinem Umfeld, zu analogen Ausschnitten des Gegenstandsbereichs, zu den zur Verfügung stehenden Theorien und Methoden sowie seinen interdisziplinären Aspekten gibt es mehr Publikationen, als man bewältigen kann. Das Problem besteht also nicht darin, genug Vorarbeiten zu finden, sondern darin, erfolgreich das auszusortieren, was man nicht zu lesen braucht. Zum Teil ist dies eine Frage der schrittweisen Einengung der Fragestellung. Zum Teil ist es eine Frage der effizienten Befassung mit vorhandener Literatur. Lesenswerte wissenschaftliche Arbeiten weisen eine übersichtliche Gliederung auf. Spätestens seit Mitte des 20. Jh. ist es üblich, ihnen ein Abstract voranzuschicken und sie am Schluß mit einer Zusammenfassung zu versehen. Diese liest man zuerst, und zwar gezielt mit der Fragestellung, ob man dieses Werk überhaupt zur Kenntnis nehmen muß. Manchmal genügt das Abstract; aber viele Autoren behalten sich die Enthüllung der Ergebnisse für die Zusammenfassung vor; und auf die Ergebnisse kommt es in diesem Punkte an. Als nächstes ist es i.a. hilfreich, das Werk durchzublättern, um sich einen Überblick über den Aufbau und die zu erwartenden Inhalte zu verschaffen. Erst nach positiver Entscheidung liest man das Werk von vorn bis hinten.

Einen Text zu lesen, ohne ihn zu verstehen, ist Zeitverschwendung und frustriert. Daher empfiehlt es sich, bei Verständnisschwierigkeiten beharrlich zu sein. Zu diesem Zweck hat man jedenfalls Wörterbücher auf dem Schreibtisch stehen, darunter ein terminologisches Wörterbuch der betreffenden Wissenschaft1 und ein Fremdwörterbuch. Manchmal hilft es, zunächst ein propädeutisches Werk zum selben Thema zu lesen und dann zur Pflichtlektüre zurückzukehren. Für Klassiker der Wissenschaft gibt es natürlich auch exegetische Hilfsmittel, z.B. eine Geschichte der betreffenden Disziplin. Oft hilft es auch, sich einschlägige frühere Werke desselben Autors zu beschaffen (z.B. seine Dissertation oder Habilitationsschrift), weil er dort bestimmte Gedanken erstmals gefaßt oder dargestellt hat und sich damals auch noch die Mühe gemacht hat, sie ordentlich zu begründen. Bleibt ein Text unverständlich, holt man fachkundigen Rat ein. Das Ende vom Lied kann sein, daß auch Fachleute den betreffenden Text nicht verstehen. Dann ist der Punkt gekommen, wo man ihn als unverständlich zur Seite legen kann.

Bei der Verfolgung der Probleme und Hinweise, die sich aus der Lektüre eines Werkes ergeben, besteht auch die Gefahr, “vom Hölzchen aufs Stöckchen” zu geraten. Hier ist gelegentliche Rückbesinnung auf das Ziel hilfreich. Man liest normalerweise ein wissenschaftliches Werk nicht um seiner selbst willen, sondern weil man seinen Inhalt zu einem bestimmten Zweck nutzen will. Dazu kann es im Gegenteil auch statthaft sein, Abschnitte zu überspringen, wenn sie zu diesem Zweck nichts beitragen.

Das Ziel der Lektüre ist es, den Text auszuwerten und das, was entweder grundsätzlich oder für aktuelle Interessen wichtig ist, mit vorhandenen Gedächtnisinhalten zu verknüpfen und so im Langzeitgedächtnis zu verankern. Der Vorgang wird durch eine Reihe von Techniken unterstützt, von denen die wichtigsten das Anstreichen und das Exzerpieren sind:

Anstreichen

Das indiskriminative Anstreichen von allem, was einem ungewohnt oder bemerkenswert vorkommt oder worauf der Autor Emphase legt, nützt weder für das unmittelbare Verständnis noch für die nächste Benutzung des Buchs irgendetwas. Insbesondere ist es auch nicht sinnvoll, 50% des laufenden Textes oder gar mehr anzustreichen.

Die Frage "was soll ich anstreichen?" zu beantworten mit "das, was wichtig ist", ist nicht hilfreich, weil etwas nur wichtig für einen bestimmten Zweck ist. Daher muß man sich zunächst fragen: Wozu streiche ich an? Das rein motorische Begleiten der Lektüre zwecks besserer Internalisierung nützt relativ wenig; der potentielle Nutzen liegt erst bei der nächsten Benutzung desselben Textes. Die Anstreichung soll mich im Text orientieren. Sie muß daher die Struktur des Textes verdeutlichen. Die Struktur eines Textes ist seine sprachliche Struktur. Das ist in der Linguistik die Informationsstruktur (oder funktionelle Satzperspektive). Wichtig ist hier die Gliederung einer Äußerung in Thema und Rhema (= Topic und Comment). Das Thema ist das, worüber etwas gesagt wird, also der Gesprächsgegenstand. Das Rhema ist das, was darüber gesagt wird, die Behauptung. Diese müssen zur Orientierung in einem Text auseinandergehalten werden, sonst wird nicht klar, worauf es dem Autor ankommt.

In bezug auf einen Absatz des Textes stellt man sich daher die Frage:

1) Wovon ist hier die Rede, was ist das Thema?

2) Was wird darüber gesagt, was ist das Rhema?

Dies ist natürlich nur in bezug auf den vorangehenden und nachfolgenden Kontext feststellbar. Das Thema ist im einfachsten Falle ein Begriff, der in Form eines Substantivs oder eines Nominalsyntagmas in dem Absatz, im einfachsten Falle an dessen Anfang, vorkommt. Manchmal allerdings bereitet der Absatz die Einführung eines Begriffs umständlich vor, so daß der betreffende Fachterminus erst gegen Ende fällt. Manchmal kommt der Terminus auch überhaupt nicht vor; dann muß man ihn selbst an den Rand schreiben. In allen anderen Fällen wird er mit einer Farbe, z.B. grün, unterstrichen.

Das Rhema ist normalerweise ein oder zwei Sätze, die sich auf das Thema beziehen. Es kann sich um eine Definition oder eine empirische These handeln. Es kann sein, daß der Autor etwas Neues behaupten oder eine bekannte Lehrmeinung mitteilen will. Das Rhema streicht man mit einer anderen Farbe, z.B. rot, an. Ist es kurz, kann man es unterstreichen, ist es lang, streicht man es am Rand an.

Das Thema muß nicht ein Begriff, es kann auch eine Behauptung, eine Hypothese oder dergleichen sein. In diesem Falle ist es aufgrund seiner sprachlichen Struktur nicht vom Rhema zu unterscheiden. Das verbleibende formale Kriterium in einem solchen Falle ist: Thema am Anfang, Rhema am Schluß des Absatzes.

Die Themata streicht man systematisch an, d.h. durch den ganzen Text hindurch markiert man die jeweiligen Themen. Dies ist das wichtigste Hilfsmittel, um sich bei späteren Benutzungen in dem Text zurechtzufinden. Man holt dadurch das nach, was eigentlich der Verlag schon durch Fettdruck der Schlagwörter hätte leisten sollen.

Die Rhemata streicht man im Prinzip nach ihrem Neuigkeitswert an. Annähernd systematisch-objektiv könnte man das nur tun, indem man sich in die wissenschaftsgeschichtliche und -soziale Situation bei Publikation des Werks versetzt. Da man jedoch normalerweise bloß für sich selbst anstreicht, kann man die Rhemata unsystematisch nach ihrem subjektiven Neuigkeitswert anstreichen. Dieser hängt natürlich vom augenblicklichen Wissensstand des Lesers ab. Dieser kann hoffen, daß sein Wissensstand in Zukunft nicht abnehmen wird, so daß der Fall, daß etwas in Zukunft Neuigkeitswert haben wird, was im Augenblick vertraut aussieht, hoffentlich selten eintritt. Daher genügt es, das anzustreichen, was einem bei der Lektüre wichtig vorkommt. Der Zweck ist, bei der nächsten Benutzung des Textes die Stellen wiederzufinden, von denen man sich mehr oder weniger vage erinnert, daß etwas Wichtiges gesagt wurde.

Exzerpieren

Einen Text zu exzerpieren kann drei Dinge bedeuten:

  1. Ein Abstract anfertigen: Ein Abstract macht man z.B. für die eigene Literaturdatenbank, für den Bericht über den Forschungsstand in der Examensarbeit, für den eigenen Aufsatz vor Publikation. Es stellt die wesentlichen Züge der Arbeit dar: Fragestellung, Theorie, Methoden, Daten, Argument, Ergebnisse. Es umfaßt normalerweise nicht mehr als eine Seite. Mehr zum Abstract anderswo.
  2. Den wesentlichen Gedankengang nachzeichnen: Eine Nacherzählung oder einen Bericht macht man z.B. für ein Literaturreferat. In einer wissenschaftlichen Arbeit wird derartiges nicht gebraucht. Überhaupt ist für wissenschaftliche Zwecke das Kondensieren von bereits Bekanntem wesentlich; sonst gibt es keinen Fortschritt.
  3. Passagen wörtlich kopieren: Wörtliche Zitate macht man, wenn Dinge so vortrefflich gesagt sind, daß die Formulierung eine eigene Qualität hat und auch nicht kondensiert werden kann. Näheres zum Zitieren anderswo.
Bei der zweiten und dritten Form des Exzerpierens kopiert man die Nummern und Überschriften der Kapitel, mindestens auf den obersten hierarchischen Ebenen, um sich später in seinem Exzerpt orientieren zu können. Ferner ist es unabdingbar, für jeden wiedergegebenen Gedanken die Seitenzahlen zu notieren. Denn später wird man in der eigenen Arbeit darauf verweisen wollen; und da ist die Angabe der betreffenden Seiten Pflicht. Nichts ist ärgerlicher, als wenn man ein Buch nochmals ausleihen muß, weil man sich zu einem Zitat die Seite nicht notiert hatte.

Selbstverständlich liest man kritisch. Alles, was einem zum Gelesenen einfällt, notiert man sofort mit, sei es Widerspruch oder Weiterführendes. Wichtig ist nur, daß man eigene und fremde Gedanken dabei sorgfältig trennt. Man kann sich z.B. angewöhnen, eigene Bemerkungen in einem Exzerpt in eckige Klammern zu setzen. Liest man das Werk zum Zwecke der Abfassung einer eigenen Arbeit, so kann es effizienter sein, diese Ideen gleich in den eigenen Text (statt in das Exzerpt) zu übertragen und dort einen Verweis auf den gelesenen Text anzubringen.

Man kann Gelesenes auch mit einer Bewertung des Typs 'umfassend', 'originell', 'konfus', 'wertlos' versehen. Der Sinn dessen hängt davon ab, für wen die Botschaft bestimmt ist. Man trennt die Bewertung tunlichst vom Exzerpt, denn dieses kann man schriftlich weitergeben, jene nicht unbedingt.

Ein Exzerpt muß man zum Schluß so ablegen, daß man auf die gespeicherte Information sicher wieder zugreifen kann. Theoretisch könnte man es nach thematischen Gesichtspunkten ablegen. Das würde dazu führen, daß das Exzerpt eines Werks, das von mehreren Themen handelt, aufgeteilt wird. Dies empfiehlt sich nicht. Man läßt ein Exzerpt als Repräsentation eines Werkes (also i.S.v. #2 oben) beisammen und legt es unter dem bibliographischen Eintrag des Werkes ab (worauf man über den Namen des Autors, den Titel usw. zugreift; s. den Abschnitt zum Bibliographieren). Daneben unterhält man eine thematische Systematik, welche selbst keine Information, sondern lediglich Verweise auf Literaturwerke einschließlich Seitenangaben enthält. Näheres hierzu im Kapitel über Datenbanken.


1 Ein terminologisches Wörterbuch ist eine Verständnishilfe. Wenn es dagegen um die Klärung eines Begriffs im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit geht, kann man sich nicht auf ein terminologisches Wörterbuch berufen; da muß man schon mindestens eine Fachenzyklopädie oder ein Handbuch benutzen. S. auch das Kapitel über Definitionen.