Einleitung
Das Gehirn des Menschen ist der Länge nach in zwei Hälften geteilt, die Hemisphären (“Halbkugeln”) genannt werden. Diese sehen nur im groben Maßstab symmetrisch aus, sind jedoch im einzelnen morphologisch und erst recht funktional asymmetrisch. Diese Hemisphärenasymmetrie nennt sich Lateralisation (“Verseitigung”). Sie kommt auch bei anderen höheren Tieren vor, ist jedoch beim Menschen besonders ausgeprägt. Da die Hemisphären die Körperhälften überkreuz kontrollieren, ist die linke Hirnhälfte für die rechte Hand zuständig. Die linke Hirnhälfte ist bei fast allen Rechtshändern sowie auch bei den meisten Linkshändern in verschiedener Hinsicht stärker differenziert (bei den “harten” Linkshändern ist es andersherum), und insbesondere ist dort ein großer Teil der Sprachfunktionen angesiedelt. Diese Hemisphäre wird (um die harten Linkshänder einzubeziehen) auch dominante Hemisphäre genannt, weil sie für rationales Denken zuständig ist.
Sprachzentren
Für die Sprache sind vor allem zwei Areale in der dominanten Hemisphäre, oberhalb des Schläfenlappens, zuständig (beide nach Neurologen benannt, die ihre Funktionen entdeckt haben):
- Das Wernicke-Zentrum befindet sich weiter hinten, etwa über dem Ohr. Es verarbeitet Gehörtes rational und ordnet ihm Bedeutungen zu. Das gegenüberliegende Areal in der anderen Hemisphäre ist auch fürs Hörverstehen zuständig, aber vor allem für nicht-sprachliche Perzepte sowie für emotionale Anteile des sprachlichen Inputs.
- Das Broca-Zentrum liegt weiter vorn, etwa an der Schläfe. Es formuliert Äußerungen nach Regeln der Grammatik. Das in der anderen Hemisphäre gegenüberliegende Areal ist ebenfalls für Motorik zuständig.
Die folgende Graphik zeigt die Lage der Sprachzentren im Hirn. Links ist vorn.
Quelle der Graphik: http://pflege.klinikum-grosshadern.de/campus/anaesthe/neurch/ImageI.gif
Die Funktionen der beiden Sprachzentren kann man erkennen, wenn sie ausfallen. Das ist z.B. bei Hirnverletzungen oder nach Schlaganfällen, die Hirnregionen schädigen, der Fall. Danach tragen Menschen Sprachstörungen davon, die Aphasie (“Sprachlosigkeit”) genannt werden. Und zwar ergibt sich, stark vereinfacht, folgende Symptomatik:
- Typische Wernicke-Aphatiker haben große Mühe, Sprache zu verstehen. Sie sprechen meist ganz flüssig, aber da ihnen die Lexeme fehlen, ist es “Kauderwelsch”, grammatische Struktur ohne Inhalt. Sie haben eine sensorische Aphasie.
- Der typische Broca-Aphatiker kann noch ganz gut verstehen, aber bestenfalls unter großer Mühe und dann im Telegrammstil sprechen. D.h. selbst wenn er Zugriff auf die Lexeme hat, fehlt ihm die Grammatik. Er hat eine expressive (oder motorische) Aphasie.
Die Organisation des Gehirns ist sehr komplex, die Funktionen sind weit verteilt. Es gibt individuelle Unterschiede, und zudem bleibt das Hirn bis ins Erwachsenenalter plastisch. Deshalb kann man Aphasien oft ganz gut therapieren: bei den Betroffenen übernehmen dann andere Hirnregionen die Aufgaben der ausgefallenen Region. Daher sind die genannten Funktionszuschreibungen typisch, aber für den Einzelfall oft zu modifizieren.
Hemisphärenasymmetrie
Der allgemeinste Gegensatz, der die Aufgabenteilung der Hemisphären charakterisiert, ist wohl der zwischen analytischem und ganzheitlichem Zugriff.
- Wir erfassen etwas ganzheitlich oder holistisch, wenn wir es durch seine Position im Kontext erkennen, ohne es in seine Bestandteile zerlegen zu müssen. Und wir erzeugen es ganzheitlich, wenn wir es en bloc erzeugen, ohne es aus seinen Bestandteilen zusammenzusetzen.
- Wir erfassen etwas analytisch, wenn wir es in seine Bestandteile zerlegen, also das Ganze erst als Funktion der Kombination seiner Teile verstehen. Und wir erzeugen es analytisch, wenn wir es nach Regeln aus Komponenten zusammensetzen.
Aus diesem allgemeinsten Gegensatz resultieren eine große Menge einzelner Gegensätze, vor allem auf sprachlichem Gebiet. Die folgende Tabelle stellt die Unterschiede zwischen den beiden Hemisphären beim Menschen (nach Ivanov 1983, Fromkin & Rodman 1978:31-35 und anderen Quellen) kontrastiv zusammen. Auch hier ist zu bedenken, daß die Unterscheidungen holzschnittartig-schematisch sind.
linke Hemisphäre | rechte Hemisphäre |
---|---|
Schläfenlappen größer als rechts | Stirnlappen größer als links |
Fähigkeiten evolutiv jung, exklusiv menschlich | Fähigkeiten evolutiv alt, Primaten gemeinsam |
dominant | untergeordnet |
legislativ | exekutiv |
logisches Schließen | Assoziationen |
regelgeleitet | intuitiv |
Struktur, Konstruktion | Ganzheit, Gestalt |
rational | emotional |
positive Emotionen | negative Emotionen |
Wahrheit/Falschheit | Adäquatheit in Situation |
soziale Integration | Umweltorientierung |
Planung | Steuerung körperlicher Aktivitäten, Bewegung in Echtzeit und Echtraum |
ohne Bindung an konkrete Situation, kontextfrei | an konkrete Situation gebunden, kontextbezogen |
durch Zeichen vermittelte Raumorientierung | unmittelbare Raumorientierung |
Übersetzung in Sprache | visuelle Bilder, innerer Strom von Vorstellungen, "Film" |
zeitliche Anordnung, sequentielle Abarbeitung | automatische Erfassung im Direktzugriff |
Operationen der Synthese und Analyse | ganzheitliche Erfassung und Abspeicherung; Pattern-matching, Gesichtererkennung |
Zerlegung in diskrete Einheiten | topologische Zusammenhänge |
distinktive Merkmale | emotionale, redundante Merkmale |
binäre Kategorisierung | fuzzy sets |
hierarchisch | holographisch |
mathematische Fähigkeiten | musische Fähigkeiten |
rhythmische Wahrnehmung, musikalische Analyse | musikalisches Schaffen |
Wahrnehmung hoher Töne | Wahrnehmung tiefer Töne |
Sprachlaute | nichtsprachliche, unartikulierte Laute |
Lautsprache | Gestik |
Fingeralphabet der Taubstummen | Gestensprache der Taubstummen |
Silbenschrift | Hieroglyphen |
Hiragana, Katakana | Kanji |
segmentale Phonologie | Intonation |
Signifikans | |
Signifikatum: grammat. Merkmale | Signifikatum: enzyklopädische Information, Konnotation |
abstrakte Begriffe | konkrete Begriffe |
paradigmatische Relationen, z.B. Syn-/Ant-/Hyponomie, Reim | phrasen-/klischeehafte syntagmatische Assoziationen |
Transformationen | Paraphrasen |
metasprachliche Kompetenz | nur kurze, ganzheitliche Phrasen und einfache Sätze, keine Verben |
Die Lateralisation ist experimentell auf verschiedene Weisen feststellbar:
- Bei halbseitigen Hirnverletzungen fallen die Funktionen der betroffenen Seite aus.
- Zu bestimmten therapeutischen Zwecken wird das Corpus Callosum, die Verbindung zwischen den Hirnhälften, operativ durchtrennt. Dann kann man testen, welche Hirnhälfte was leistet.
- Die Ohren sind unterschiedlich spezialisiert. Das kann man bei dichotischem Hören (gleichzeitig verschiedener Input auf die beiden Ohren) und auch bei Messung der Latenzzeit bei demselben Input auf je ein Ohr feststellen.
- Das rechte Ohr ist auf das Verstehen von Sprache spezialisiert. Insbesondere versteht es nicht nur Wörter, sondern auch Nonsens-Silben.
- Das linke Ohr versteht besser Musik und Umweltgeräusche.
Auch die Gebärdensprache ist links lateralisiert. Die linke Hirnhälfte ist also auf Sprache, nicht auf Audition allgemein spezialisiert.
Die funktionale Differenzierung der Hemisphären verläuft sowohl in der Onto- als auch in der Phylogenese (Lyons 1981, ch. 2.3):
- Die Lateralisierung ist ein artspezifischer Reifungsprozeß, der im Alter von zwei Jahren beginnt und ab fünf Jahren und jedenfalls vor der Pubertät endet. Besonders die Fähigkeiten der linken Hemisphäre bilden sich erst während der Kindheit aus. Metasprachliche Operationen sind erst mit elf Jahren voll ausgebildet.
Schon bei der Geburt ist die spätere Funktionenverteilung ausgeprägt, aber das Hirn ist noch plastisch. Läsionen in einer Hemisphäre können bis zum Alter von fünf Jahren von der anderen vollständig kompensiert werden. Bei späteren Läsionen nimmt die Kompensierbarkeit ab und ist ab ca. 14 Jahren nur noch sehr gering. Dies korreliert einigermaßen mit dem Fortgang von normalem Erstspracherwerb. - Die Lateralisierung ist bei niederen Tieren nicht festzustellen, ist aber bei Affen bereits angelegt. Auch sie benutzen überwiegend das rechte Ohr, wenn sie auf Mitteilungen von Artgenossen horchen. Die volle Ausprägung der Funktionen der linken Hemisphäre findet freilich erst im Laufe der Evolution von Homo sapiens statt.