Einleitung
Das Erkenntnisziel der arealen Linguistik ist ein zweifaches:
- In historischer Perspektive geht es darum, Kontakte zwischen geographisch und sozial benachbarten Sprachen, und damit Kulturkontakte, zu erschließen.
- Auf theoretischer Ebene wird eine Theorie der gegenseitigen Beeinflussung von Sprachen angestrebt.
Die Bezeichnung Areale Linguistik suggeriert, daß Sprachen einander dadurch beeinflussen, daß ihre Sprachgebiete geographisch aneinander stoßen. Aber Sprachen können einander nur dadurch beeinflussen, daß sie im Kopf mehrsprachiger Personen aneinander stoßen. Die Bedingung der Mehrsprachigkeit muß man freilich milde auslegen; für lexikalische Entlehnung genügt es, daß jemand einen Ausdruck der Sprache L1 versteht, damit er ihn oder seine Eigenschaften nach L2 übertragen kann. Wichtig aber ist, daß es keine Bedingung für Mehrsprachigkeit von Personen ist, daß die Sprachgebiete der beteiligten Sprachen aneinander stoßen. Im Deutschen gibt es z.B. nicht wenige spanische Fremdwörter wie Papaya, Mango, Tapas, Conquista, Embargo; aber die Sprachgebiete sind meilenweit voneinander entfernt.
Im 21. Jh. spielt geographische Entfernung fast keine Rolle mehr; gerade die Sorte von Kommunikation, welche Fremdwörter generiert, läuft großenteils über Fernsehen, Rundfunk und elektronische Medien ab. Aber der arealen Linguistik geht es vor allem um die Aufdeckung von Kontakten in vergangenen Zeiten. Da bestand die Motivation für Mehrsprachigkeit eben doch überwiegend darin, daß die Sprachgebiete aneinander stießen.
Soweit es gerade um dieses Ziel geht, arbeitet die areale Linguistik mit der Geschichtswissenschaft Hand in Hand, und zwar bidirektional:
- Bei der diachronen Interpretation eines Sprachstadiums, insbesondere der Etymologie von Lexemen, aber auch der Erklärung von Konstruktionen, treten immer wieder Fälle auf, wo eine sprachliche Einheit in der einen oder anderen Hinsicht aus dem Rahmen fällt. Dann stellt sich die Frage, ob sie aus einer anderen Sprache importiert ist. Bei der Antwort kann die Geschichtswissenschaft helfen, insofern sie weiß, mit welchen anderen die betreffende Sprachgemeinschaft zur fraglichen Zeit in Kontakt gestanden hat.
- Über das prähistorische Schicksal von Nationen, Stämmen usw. weiß die Geschichtswissenschaft oft wenig bis gar nichts. Wenn aber die diachrone Interpretation der Einheiten und Strukturen einer Sprache sich auf den arealen Sprachvergleich stützen kann, generiert sie brauchbare Hypothesen über die Herkunft von nicht ins System passenden Einheiten und liefert so der Geschichtswissenschaft Anhaltspunkte über prähistorische Kontakte.
Entlehnung
Sprachkontakt manifestiert sich in Entlehnung. Eine sprachliche Einheit (i.w.S.) oder Eigenschaft von L1 wird in L2 entlehnt, wenn Sprecher von L2 anfangen, sie in ihrer Rede zu verwenden. L1 ist dann die Gebersprache (engl. donor language), L2 die Nehmersprache (recipient language). Die betreffende sprachliche Einheit wird freilich erst schrittweise (wenn überhaupt) Bestandteil des Systems von L2. Wenn die Systeme von L1 und L2 merklich verschieden sind, dann ist die entlehnte Einheit in L2 zunächst fremd. Durch intensiven Gebrauch und auf lange Sicht kann dann auf verschiedene Weise Anpassung stattfinden. Eine Möglichkeit ist, daß die entlehnte Einheit dem System von L2 angepaßt wird. In deutscher Terminologie unterscheidet man in diesem Sinne zwischen einem Fremdwort und einem Lehnwort. Ein bekannter Fall sind lateinische Lehnwörter im Deutschen wie Fenster, Schule, die nur noch für historische Linguisten als solche erkennbar sind. Eine andere Möglichkeit ist, daß L2 so massenhaft aus L1 entlehnt, daß sich in L2 ein eigenes Subsystem neben dem ererbten System von L2 bildet bzw. daß das System von L2 expandiert und heterogen wird. Im Extremfall wird L2 eine Mischsprache (aus L1 und L2). In diesem Sinne ist Englisch eine Mischsprache aus (Alt)englisch und (Alt)französisch.
Im Prinzip können beliebige sprachliche Einheiten und Eigenschaften entlehnt werden. Vorausgesetzt ist nur, wie schon gesagt, ein minimaler Grad von Bilinguismus. Der bekannteste Fall ist zweifellos die lexikalische Entlehnung. Die folgende Tabelle bietet ein paar Beispiele aus verschiedenen Sprachen.
L1 | L2 | Beispiele |
---|---|---|
frz. | engl. | pigeon, machine, madam |
engl. | dt. | club, computer, stewardess |
dt. | russ. | galstuk, krab, masštab |
Hier werden Wörter mit Significans und Significatum entlehnt, was freilich deren Anpassung an das System von L2 nicht ausschließt. Ein anderer Fall lexikalischer Entlehnung besteht in der Bedeutungsentlehnung.
Hier werden also nur Significata entlehnt. Ein altes deutsches Beispiel ist lesen. Es bedeutet ursprünglich nur “sammeln” (wie noch in auflesen und Weinlese). Den Altvorderen fehlte ursprünglich der Begriff des Lesens (i.S.v. “rezeptiv schriftlich kommunizieren”). Man lernte ihn von den Römern. Lat. legere bedeutet “sammeln” und “lesen”. Die Bedeutungsentlehnung besteht darin, daß das partielle Übersetzungsäquivalent lesen nunmehr auch “rezeptiv schriftlich kommunizieren” bedeutet.
Zeitgenössische Beispiele entstammen überwiegend dem Englischen und beruhen, zusätzlich zu der definitionsgemäß vorausgesetzten semantischen Ähnlichkeit, oft auch noch auf einer Ausdrucksähnlichkeit, die durch gleiche Herkunft zustandekommt. Dieser Fall liegt z.B. bei dt. warnen vor, das bis um die zweite Jahrtausendwende ausschließlich bedeutet hatte “jemandes Aufmerksamkeit darauf lenken, daß ihm etwas Schlimmes passieren kann”. Engl. warn allerdings hat schon seit langem die weitere Bedeutung “jemandes Aufmerksamkeit auf etwas lenken”; und diese tritt nun auch in deutschen Äußerungen auf, z.B. Wenn neue Nachrichten eintreffen, Warnung anzeigen. (Einstellungsmenü von Seamonkey 1.1.14, 2008). (In solchen Fällen ist also die semantische Entwicklung zunächst [ohne Sprachkontakt] divergent, dann jedoch [mit Sprachkontakt] wieder konvergent.) Die folgende Tabelle enthält zusätzlich drei Beispiele aus der wissenschaftlichen Terminologie (die nebenbei zeigen, daß Wissenschaftler es nicht schaffen, ihre Terminologie frei von üblichem semantischem Wandel zu halten).
Englisch | Deutsch | ||
---|---|---|---|
Ausdruck | Ausdruck | urspr. Bedeutung | entlehnte Bedeutung |
allow | erlauben | (jmd. etw.) gewähren | “zulassen”1 |
forbid | verbieten | (jdm. etw.) nicht gewähren | “nicht zulassen” |
although | obwohl | obschon | “allerdings” |
anthropology | Anthropologie | Menschenkunde | “Völkerkunde, Ethnologie” |
noun | Nomen | deklinierbares Wort | “Substantiv” |
phrase | Phrase | hohle Redensart | “kontinuierliches Syntagma” |
share | teilen | in Teile separieren | “weitergeben, teilhaben lassen”2 |
understand | verstehen | geistig [das Gemeinte] nachvollziehen | “erfassen”3 |
warn | warnen | auf negative Folgen eines imminenten Ereignisses aufmerksam machen | “aufmerksam machen”4 |
1 AliExpress bittet auf seiner Website (19.09.22): "Website-Benachrichtigungen erlauben". Ähnlich: "... wenn Windows nur noch jene Programme ausführen darf, die Sie zuvor ausdrücklich erlaubt haben." (c't exklusiv 25.08.23)
2 Z.B. bedeutet by sharing free living space “indem man freien Wohnraum anderen überlässt”. Die deutsche Übersetzung “indem du deinen freien Wohnraum teilst” (AirBnB, 27.09.21) würde hingegen bis ins zweite Drittel des 20. Jh. ausschließlich bedeutet haben, dass der freie Wohnraum unterteilt wird.
3 Z.B. lautet ein Vortragstitel der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Nordrhein-Westfälischen Akademie (23.02.2023) “Wie Nutztiere uns helfen, Infektionskrankheiten zu verstehen”. Bis Ende des 20. Jh. würde das vorausgesetzt haben, dass die Infektionskrankheiten Nachrichten senden.
4 Z.B. ist "the captain will sound the ship’s horn to warn you to return to the ship" (Tourbeschreibung 2017) gutes Englisch. "Der Kapitän wird die Schiffssirene betätigen, um Sie davor zu warnen, zum Schiff zurückzukehren" besagt das genaue Gegenteil.
Ein ähnlicher Fall liegt in der Lehnübersetzung vor, welche anderswo illustriert ist. (Bedeutungsentlehnung und Lehnübersetzung werden gelegentlich unter dem Oberbegriff ‘Lehnprägung’ zusammengefaßt.)
Neben der lexikalischen steht die grammatische Entlehnung. Die entlehnten Züge der Grammatik können grammatische Formative sein, wie in den ersten beiden Beispielen der folgenden Tabelle. Diesen Fall könnte man auch noch unter die Übernahme von Lehnwörtern subsumieren. Es können aber auch grammatische Konstruktionen sein, wie in den anderen Beispielen.
L1 | L2 | ||
---|---|---|---|
Sprache | Einheit/Eigenschaft | Sprache | Nachbildung |
dt. | und | lett. | un |
span. | de que | yuk. | dekeh |
engl. | trust in | dt. | Vertrauen in |
engl. | in English | dt. | in Englisch |
span. | SVO | yuk. | SVO |
Die ersten beiden Beispiele zeigen, daß Konjunktionen ein beliebtes Objekt von Entlehnung sind. Die von Vertrauen ursprünglich regierte Präposition ist zu. Deren Ersetzung durch in (seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.) beruht auf grammatischer Entlehnung der Konstruktion von engl. trust. Ähnliches gilt für in Englisch statt auf Englisch. Die ererbte Grundwortstellung im Yukatekischen ist VOS. Die Voranstellung des Subjekts gelingt einheimisch nur durch Topikalisierung und Fokussierung, beide markiert. Sie unmarkiert zu lassen, d.h. SVO als Grundwortstellung zu handhaben, ist grammatische Entlehnung aus dem Spanischen.
Bei der Frage der Gebersprache für L2 ist zu unterscheiden zwischen der Sprache, in der die sprachliche Einheit allererst gebildet wurde, und der Sprache, von der L2 sie unmittelbar empfangen hat. Im Deutschen wie in anderen Sprachen gibt es Fremdwörter aus aller Herren Länder; aber sie sind nicht von diesen durch unmittelbaren Kontakt mit dem Deutschen dahin gelangt. Chili und Schokolade sind für uns spanische Fremdwörter; aber die Spanier haben sie ihrerseits von den Azteken. Wörter wie Känguruh und Bumerang stammen aus australischen Sprachen, aber wir haben sie aus dem Englischen. Seit Jahrtausenden kommen griechische Fremdwörter über das Lateinische ins Deutsche; sonst würden wir vermutlich Paidagogik und nicht Pädagogik sagen und schreiben. Aber seit einiger Zeit kommen griechische und lateinische Fremdwörter wie Enigma und Premium über das Englische ins Deutsche.
Die eingangs postulierte Theorie der Entlehnung versucht vor allem, verschiedene Arten der Entlehnung zu hierarchisieren. Es liegt auf der Hand, daß z.B. Deutsch eine Fülle von Fremdwörtern aus verschiedenen, grammatische Entlehnungen jedoch nur aus ganz wenigen Sprachen enthält, und zwar aus einer Teilmenge der ersteren. Ein implikatives Gesetz besagt daher, daß grammatische Entlehnung aus einer Sprache die lexikalische Entlehnung aus derselben Sprache voraussetzt. Anders ausgedrückt, grammatische Entlehnung ist ein Symptom intensiveren Sprachkontakts. Daneben gibt es auch phonologische Entlehnung. Z.B. entstammen der deutsche Laut [ʒ], wie in Journalist, und der englische Laut [ʤ], wie in journalist, beide vom frz. [ʒ]. Hier sagt ein Entlehnungsgesetz, daß ein Laut von L1 nach L2 kommt nicht dadurch, daß er als Element des Lautsystems entlehnt wird, sondern dadurch, daß er in Fremdwörtern aus L1 vorkommt, die in L2 in dem Punkte nicht angepaßt werden.
Sprachbund
Wenn Sprachen in einem Areal über lange Zeit miteinander Kontakt haben, beeinflussen sie sich wechselseitig extensiv. Das Ergebnis können dann systematische Ähnlichkeiten in Lexikon und Grammatik sein. Eine solche Gruppe von Sprachen nennt sich Sprachbund. Der Sprachbund ist gleichsam das areallinguistische Gegenstück zur Sprachfamilie der historisch-vergleichenden und zum Sprachtyp der allgemein-vergleichenden Sprachwissenschaft.
Das am längsten wissenschaftlich etablierte und daher bekannteste Beispiel eines Sprachbunds ist der Balkanbund, zu dem Bulgarisch, Albanisch, Rumänisch, (Neu-)Griechisch sowie Balkan-Romani (eine Zigeunersprache) gehören. Er ist anderswo ausführlicher dargestellt. Hier genügt es, eine Gemeinsamkeit festzustellen: alle diese Sprachen haben keinen Infinitiv. Andere Sprachbünde hat man in Mesoamerika und in Südostasien festgestellt.
Für den Begriff des Sprachbunds ist es irrelevant, ob die beteiligten Sprachen genetisch verwandt sind oder nicht. Die Mitglieder des Balkanbundes sind zu unterschiedlichen Graden miteinander verwandt; die Mitglieder der beiden zuletzt erwähnten Sprachareale sind es nicht alle. Der Sprachkontakt führt jedenfalls zu Konvergenz. Sie ergibt ganz andersartige, kompliziertere Verwandtschaftsverhältnisse als genetische Verwandtschaft. Gehen bekanntermaßen genetisch verwandte Sprachen einen Sprachbund ein, so besteht das methodische Problem oft darin, solche Gemeinsamkeiten, die durch nachträglichen Sprachkontakt entstanden sind, von solchen zu unterscheiden, die aus der gemeinsamen Ursprache ererbt sind. Gehen ursprünglich nicht verwandte Sprachen einen intensiven Sprachbund ein, so kann eine Mischsprache entstehen, die es dem historischen Sprachwissenschaftler unmöglich macht, nachträglich die wahre Vorgeschichte zu entwirren.
Um die Wende zum 21. Jh. hat sich eine neue Richtung der arealen Linguistik, die Arealtypologie, entwickelt. Die Methode ist, stark vereinfacht, die folgende: Man arbeitet mit sehr umfangreichen Stichproben von Sprachen mit der Tendenz, überhaupt alle bekannten Sprachen zu erfassen. Man typologisiert sie nach bestimmten grammatischen Eigenschaften, z.B. der Grundwortstellung, dem Vorhandensein eines Verbs ‘haben’ oder eines definiten Artikels. Soweit ist es noch Typologie. Jetzt jedoch sucht man die Mitglieder eines solchen Typs auf einer (Welt-)Karte auf. Dann stellt man fest, daß mehrere solche Eigenschaften überhaupt keine Zufallsverteilung über den Globus aufweisen, sondern sich in Arealen ballen. Und oft konzentrieren sich sogar mehrere unabhängige Eigenschaften in demselben Areal. So findet man prima-facie-Evidenz für Sprachkontakt, der oft in prähistorischen Zeiten anzusetzen ist.