Wie in der Einleitung zum Spracherwerb angedeutet, ist der Sekundärspracherwerb ein weniger einheitlicher Gegenstand als der Primärspracherwerb, weil eine Reihe von entscheidenden Rahmenbedingungen variieren:
- Wird eine zweite Sprache gleichzeitig und gleichberechtigt mit der ersten Sprache erlernt, ist es eigentlich kein Sekundärspracherwerb, sondern bilingualer (Primär-)Spracherwerb.
- Auch abgesehen von dem vorgenannten Fall macht es einen wesentlichen Unterschied, in welchem Alter die zweite Sprache gelernt wird.
- Schließlich sind die Bedingungen des Sekundärspracherwerbs entscheidend verschieden in dem Falle, daß er spontan, d.h. durch natürliche Integration in die Sprachgemeinschaft, und in dem Falle, daß er gesteuert, d.h. durch Sprachunterricht, vonstatten geht.
Diese Bedingungen werden im folgenden der Reihe nach besprochen.
Bilingualer Spracherwerb
Bilinguismus oder Bilingualismus (lateinisch, “Zweisprachigkeit”) ist die Beherrschung von zwei Sprachen, Multilingu(al)ismus (wörtl. “Vielsprachigkeit”; aber gemeint ist normalerweise Mehrsprachigkeit) die Beherrschung von mehr als zwei Sprachen durch einen Einzelnen und insbesondere auch durch eine soziale Gemeinschaft.1 Aus letzterem Grunde wird dieser Punkt im Kapitel über Soziolinguistik wieder aufgenommen. In einem engen Verständnis des Begriffs ist Bilinguismus die Beherrschung zweier Sprachen in gleicher Perfektion. Aber erstens wird der Begriff auch oft in weniger strengem Sinne gebraucht derart, daß jemand, der mal eine Fremdsprache gelernt hat, gleich als bilingual gilt. Und zweitens, wichtiger, ist auch die Kompetenz wirklich bilingualer Personen in den beiden Sprachen normalerweise gar nicht gleich, denn das wäre ein meistens überflüssiger Luxus. Wir beschränken uns daher hier auf eine simple Charakterisierung von Bilinguismus als fließende aktive Beherrschung zweier Sprachen.
Zunächst ist festzuhalten, daß es erstens viele Menschen gibt, die diese Bedingung erfüllen, und daß man zweitens diese Fähigkeit am leichtesten erwirbt, indem man die betreffenden Sprachen möglichst frühzeitig im Leben lernt. Der letztere Punkt wird gelegentlich bestritten. Manche kennen Personen, deren Umgebung versucht hat, sie zweisprachig zu erziehen und die die beiden Sprachen durcheinanderbringen und insoweit keine von beiden richtig beherrschen. Sie verallgemeinern aus solchen Fällen, daß man nicht zwei Sprachen auf einmal lernen kann. Dieser Schluß folgt allerdings nicht:
- Jeder Mensch hat die Kapazität, mehr als eine Sprache zu lernen. Es gibt keine Beschränkung des Gehirns, der Lernfähigkeit oder des Gedächtnisses, die das verhinderte. Millionen von Bilingualen, die keine besondere “Sprachbegabung” haben, beweisen es. In manchen Sprachgemeinschaften spricht jedes Mitglied vier oder mehr Sprachen.
- Freilich gibt es Rahmenbedingungen für den bilingualen Primärspracherwerb. Ein Kind, das sprechen lernt, kann nicht ohne weiteres wissen, daß es gleichzeitig zwei Sprachen lernen soll, und hat insbesondere an dem sprachlichen Input selbst zunächst keine hinreichenden Anhaltspunkte, daß er überhaupt zwei verschiedenen Sprachen zuzuordnen ist. Dagegen kann ein Kind lernen, daß man unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Situationen so und unter anderen Bedingungen und in anderen Situationen anders spricht. Das lernt es zwanglos, denn es gilt für jede Sprache, also auch, wenn man einsprachig aufwächst. Wächst man mit zwei Sprachen auf, so ist der Normalfall, daß man die eine Sprache in einer Kategorie von Situationen verwendet, die andere Sprache in der dazu komplementären Kategorie von Situationen. Z.B. spricht man die eine Sprache nur zu Hause, die andere draußen. Oder die eine Sprache nur mit der Mutter, die andere mit dem Rest der Welt. Oder was andere motivierte Verteilungen mehr sind. Ist dies gewährleistet, kann das Kind die beiden Sprachen auseinanderhalten und beide perfekt lernen. Alle Fälle von Kindern, die zwei Sprachen durcheinander bringen oder unvollkommen lernen oder die eine Sprache, die man ihm beibringen will, nicht lernen, sind von der Art, daß ihre Bezugspersonen diesen einfachen Sachverhalt nicht begriffen und befolgt haben und folglich die Kinder durcheinandergebracht und frustriert haben. Und in der Tat, wenn die Eltern verschiedene Muttersprachen haben, dann beherrscht normalerweise mindestens einer von beiden auch die Sprache des anderen und gerät in Situationen, wo er vor dem Kind die Sprache spricht, die er dem Kind nicht beibringt. In solchen – gar nicht seltenen – Fällen sind die Bedingungen für erfolgreichen bilingualen Primärspracherwerb nicht leicht herzustellen.– Daneben gibt es Fälle von erfolglosem kindlichem Zweitspracherwerb, wo man versucht hat, dem Kind die zweite Sprache einzuprügeln. Solche Mißerfolge bedürfen freilich keines Kommentars.
Kritische Periode des Spracherwerbs
Es ist eine Alltagsweisheit, daß Menschen eine Fremdsprache leicht und akzentfrei lernen können, wenn sie das im Kindesalter tun, während sie sich mit dem Fremdsprachenlernen schwerer tun, wenn sie erwachsen sind. Die Menschen unterscheiden sich freilich auch in diesem Punkte. Es gibt einerseits Personen, die nach Abschluß der Pubertät nicht mehr in der Lage sind, eine weitere Sprache zu lernen. Und es gibt daneben Personen, die auch im Erwachsenenalter noch verhältnismäßig mühelos und akzentfrei Fremdsprachen lernen. Über diese Verhältnisse zu quantifizieren ist nicht einfach, weil verläßliche vergleichbare empirische Unterlagen fehlen; insbesondere kommt der Fall, daß ein Erwachsener eine Fremdsprache vollständig lernen will und muß, nicht in regelmäßiger Weise vor. Immerhin scheint die Annahme plausibel, daß die zweite Gruppe glücklicher Zeitgenossen in der Minderzahl ist.
Neben der großen ersten Gruppe stehen die bekannten Fälle von Wolfskindern, welche man nach ihrer Pubertät versucht hat in die Gesellschaft einzugliedern, die jedoch nicht mehr sprechen lernten. Aus beiden Arten von Evidenz hat man geschlossen, daß es für den Spracherwerb eine “kritische Periode” gibt, in der er möglich ist und die zum angeborenen Spracherwerbsprogramm gehört. Eine solche Hypothese ist allerdings weder empirisch gestützt noch nötig. Die verschwindend wenigen der Wissenschaft bekannten Wolfskinder beweisen überhaupt nichts, da eine Fülle von Variablen im Spiel sind, die man nicht kontrollieren kann. Und eine genetische Barriere kann nicht im Spiel sein, weil es, wie gesagt, zahlreiche Erwachsene gibt, denen sie offenbar nicht im Wege ist.
Und nötig ist die Hypothese einer für den Spracherwerb spezifischen kritischen Periode ebensowenig, um die Tatsache zu erklären, daß die meisten Menschen nach der Pubertät weniger leicht und vollkommen Sprachen lernen als vorher. Vielmehr reichen zur Erklärung dieser Beobachtung ein paar allgemeinere Tatsachen vollkommen aus:
- Die biologische (psychische und anatomische) Reifung des Menschen beginnt im Mutterleib und dauert dann bis zur Pubertät einschließlich. Dieses ist die Periode der Plastizität. Es gibt eine Fülle von Dingen, die Menschen nach dieser Periode nur noch schwer oder überhaupt nicht mehr lernen, während sie sie während der plastischen Periode verhältnismäßig leicht lernen. Relevante Beispiele sind Schwimmen, Fahrrad fahren und ein Musikinstrument spielen. Und wiederum gibt es natürlich ein paar Menschen, die solche Dinge noch als Erwachsene gelernt haben. Die interindividuellen Unterschiede sind hier ebenso groß oder so klein wie beim Spracherwerb. Bei den relevanten Fähigkeiten handelt es sich sowohl um solche (wie Musikmachen), die wie die Sprache speziesspezifisch sind, als auch um solche (wie Schwimmen), die Menschen mit vielen Tieren teilen. Der für das Lernen mögliche Zeitraum beginnt auf verschiedenen Altersstufen – aus relativ trivialen Gründen lernen Menschen später Fahrradfahren und ein Musikinstrument spielen als Sprechen –, aber enden tut er immer mit der Pubertät. Insoweit ist also die auf Kindheit und frühe Jugend beschränkte Sprachlernfähigkeit eine Folge der mit der Pubertät endenden Plastizität.
- Im Falle der Sprache kommt allerdings ein zweiter, besonderer Umstand hinzu. Das Sprachsystem übernimmt den größten Teil der Aufgabe, Perzepte und Konzepte unserer Umwelt und unseres Denkens zu kategorisieren und Operationen und Prozesse bereitzustellen, die wir darauf anwenden. Die so zur Verfügung gestellten Kategorien und Operationen werden zur Routine, denn das erleichtert uns die Lösung der Aufgaben der Kognition und Kommunikation, für welche sie da sind. Ein großer Teil dieser Routinen sinkt ins Unbewußte ab. Dort verfestigen sie sich und entziehen sich der Kontrolle und Modifikation. Wächst jemand einsprachig auf, so werden die Kategorien und Operationen dieser Sprache diejenigen, mit denen er überhaupt denken und kommunizieren kann. Der Fall, daß man das noch auf andere Weise tun kann, ist dann nicht mehr vorgesehen. Es noch auf andere Weise zu tun, würde erfordern, daß man die verkrusteten Strukturen aufbricht, sich von Automatismen löst und Dinge wahrzunehmen lernt, die zwischen den Kategorien liegen, die bisher immer hingereicht haben. Es geht hier nicht lediglich um die Überwindung von Stereotypen und Denkfaulheit, sondern es geht um das physiologische Problem, feste Bestandteile einer prozeduralen Kompetenz wieder beweglich zu machen. Diese Flexibilität haben offenbar nur relativ wenige.
- Schließlich ist in Rechnung zu stellen, daß die psychosozialen Bedingungen, unter denen Kleinkinder typischerweise eine Sprache lernen, sich nie wiederholen, nachdem sie dem Kindesalter entwachsen sind: Der Lerner ist uneingeschränkt motiviert, die Sprache zu lernen. Er ist neugierig und vollkommen frei von der Angst, etwas falsch zu machen. Und ihm stehen Bezugspersonen zur Verfügung, welche sich auf seine kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten und Bedürfnisse einstellen und ihm eine optimale, individuell angepaßte Lernumgebung bereiten: Sie warten, achten und reagieren auf seine Äußerungen, geben ihm für seine Bemühungen positive Verstärkung, korrigieren aber andererseits geduldig und beständig seine Fehler. Und dieses während mehrerer Jahre den ganzen Tag lang. In solche Lernumstände kommt ein Jugendlicher oder Erwachsener nur in seltenen Ausnahmefällen. Und andererseits lernt er die Fremdsprache ceteris paribus in der Tat desto besser, je näher seine Lernumstände diesem Ideal kommen.
Fazit: Es gibt zwar eine “kritische Periode” für den Spracherwerb, aber sie ist keine Besonderheit der Sprachlernfähigkeit, sondern lediglich eine notwendige Konsequenz allgemeinerer, über der menschlichen Reifung waltender Beschränkungen.
Spontaner und gesteuerter Spracherwerb
Der in der Überschrift beschlossene Unterschied ist der folgende:
- Gesteuerter Spracherwerb ist das Lernen einer Sprache dadurch, daß jemand sie einen lehrt.
- Spontaner (oder ungesteuerter) Spracherwerb ist der Erwerb einer Sprache durch gewöhnliche Beteiligung an der Kommunikation der Sprachgemeinschaft, also ohne daß man sie eigens gelehrt wird.
In okzidentalen Zivilisationen ist folgende Korrelation typisch: die Muttersprache wird im Kindesalter spontan erworben, Fremdsprachen werden in jugendlichem Alter gesteuert erworben. Diese Korrelation ist nicht in allen Teilen notwendig. Einerseits kommt – in denselben Zivilisationen – zum spontanen Mutterspracherwerb auch eine gehörige Portion Steuerung dazu, nämlich spätestens in der Schule. Und andererseits kann man Fremdsprachen auch im fortgeschrittenen Alter und außerhalb der Familie spontan erwerben, z.B. wenn man emigriert. Gleichzeitig zeigen die genannten Fälle, daß die beiden Wege des Spracherwerbs einander nicht ausschließen.
Es ist eine Alltagsweisheit, daß ceteris paribus der spontane Spracherwerb effizienter ist und bessere Ergebnisse zeitigt als der gesteuerte Spracherwerb. Von dieser Verallgemeinerung muß man allerdings sogleich die reflexive Sprachkompetenz ausnehmen. Man kann sie sich zwar bis zu einem gewissen – interindividuell sehr stark variierenden – Grade auch im spontanen Spracherwerb aneignen; aber höhere Stufen bleiben typischerweise der formalen Erziehung vorbehalten.
Damit sind wir bei einem wichtigen Unterschied zwischen gesteuertem und ungesteuertem Spracherwerb:
- Lernt man eine Sprache durch Beteiligung an der Sprachgemeinschaft, so geschieht das i.w. durch Nachahmung von Vorbildern sowie Abstraktion von Einheiten und Regeln des Sprachsystems aus den gehörten Tokens und Überführung der ersteren ins Langzeitgedächtnis. Dies alles betrifft die prozedurale Sprachkompetenz.
- Lernt man eine Sprache durch Unterricht, so involviert das je nach Unterrichtsmethode einen mehr oder minder umfangreichen Anteil an Reflexion über die Sprache und ihr System. Im Extremfall, z.B. beim traditionellen Lateinunterricht, wird die prozedurale Sprachkompetenz ausgeschaltet und nur die reflexive Sprachkompetenz angesprochen und ausgebildet.
Auch dieser Unterschied ist nicht total und nicht notwendig. Selbstverständlich kann man, insbesondere als Erwachsener, bei der Integration in eine Sprachgemeinschaft auch die reflexive Sprachkompetenz nutzen und erweitern. Und seit der “kommunikativen Wende” im Fremdsprachenunterricht wird dort die prozedurale Sprachbeherrschung noch mehr gefördert, als es durch die bis dahin vorherrschenden ‘pattern drills’ geschah. Grosso modo aber gilt die gemachte Unterscheidung. Damit sind wir in der Lage, die eingangs erwähnte Behauptung, der spontane Spracherwerb sei effizienter als der gesteuerte, zu relativieren. Die prozedurale Sprachkompetenz ist an der Basis jeglicher Sprachkompetenz. Insbesondere Leute, die noch wenig über die Problematik nachgedacht haben, – also die meisten Menschen – verstehen unter der Beherrschung einer Sprache die rein prozedurale Beherrschung. Unter solchen Voraussetzungen freilich ist der ungesteuerte Spracherwerb effizienter, eben weil er unmittelbar auf die prozedurale Beherrschung zielt. Andererseits erfüllt die Schule, insoweit sie reflexive Sprachkompetenz vermittelt, durchaus eine wichtige Funktion. Es bleibt freilich das Problem, wie der Sprachunterricht die prozedurale Sprachkompetenz mehr fördern kann.
Diese Frage wird von der Sprachlehr- und -lernforschung empirisch angegangen. Man untersucht den spontanen Sekundärspracherwerb, verallgemeinert über die Stufen seines Fortschritts und die Faktoren, die ihn fördern, und versucht, die Ergebnisse auch im gesteuerten Spracherwerb umzusetzen. Die Stufen des Sekundärspracherwerbs beschreibt man, indem man gleichsam Momentaufnahmen der jeweiligen Sprachkompetenz macht. Man spricht hier von Lernergrammatiken, die den Kern sogenannter Interimssprachen bilden, also von Sprachen, die sich auf dem Wege zum Ziel vollkommener Sprachbeherrschung befinden. Ähnlich wie im Primärspracherwerb liegt auch hier in der Abfolge der Stufen eine gewisse Systematik. Freilich ist die Situation hier komplizierter, denn der Lerner beherrscht bereits eine Sprache; er lernt also nicht gleichzeitig mit der Zielsprache menschliche Sprache. Seine Erstsprache interferiert erheblich mit seiner Zweitsprache in dem Sinne, daß er dazu neigt, Eigenschaften seiner ersten Sprache auf die zweite zu übertragen. Solche Interferenz aus der Muttersprache (und übrigens beim Tertiärspracherwerb auch aus der Zweitsprache) ist kaum zu vermeiden, solange man die betreffenden Eigenschaften der Zielsprache noch nicht kennt, passiert aber natürlich auch wider besseres Wissen. Zudem ist es, wie gesehen, schwierig, sich von den Kategorien der Muttersprache freizumachen. Daher gibt es neben Parallelismen zwischen dem ungesteuerten Zweitspracherwerb und dem Mutterspracherwerb auch erhebliche Unterschiede.
Die Erst- und die Zweitsprache haben einige Eigenschaften gemeinsam und unterscheiden sich in anderen. Trivialerweise ist die Übertragung aus der Erstsprache im ersteren Falle (positiver Transfer) nützlich, im letzteren (negativer Transfer) hinderlich. Ob die Lerner in Fällen, wo ihnen die Strukturen der Zielsprache unbekannt sind, tatsächlich immer die funktional entsprechenden Strukturen ihrer Muttersprache in die Zielsprache übertragen, ist eine empirische Frage von einiger praktischer Bedeutung. Wenn sie das nämlich tun, braucht man diese Eigenschaften der Zielsprache nicht zu unterrichten, sondern kann sie stillschweigend voraussetzen. Tatsächlich spielen hier aber eine Reihe von Faktoren eine Rolle wie die Erfahrung der Lerner mit unterschiedlichen Sprachen sowie die reflexive Kompetenz, welche sie in solchen Zweifelsfällen walten lassen.
Schließlich erklären sich nicht alle Fehler, die Lerner in der Zielsprache machen, durch negativen Transfer. Es passieren auch Fehler innerhalb des Systems der Zielsprache, sei es, daß der Lerner obligatorische Regeln nicht anwendet, sei es, daß er aus partieller Evidenz übergeneralisiert. Hier ebenso wie im Erstspracherwerb gibt es erhebliche interindividuelle Unterschiede. Auch diese versucht man zu kontrollieren dadurch, daß man die Lerner in Typen einteilt. Die wichtigste Unterscheidung ist vermutlich die zwischen den folgenden beiden Lernertypen:
- Einige Menschen lernen eine Fremdsprache am leichtesten dadurch, daß sie in die Sprachgemeinschaft eintauchen und mitkommunizieren. Sie haben eine natürliche kommunikative Begabung und keine Angst, Fehler zu machen. Grammatische Erläuterungen prallen dagegen an ihnen ab. Ihre Begabung liegt eher auf der Ebene der prozeduralen Kompetenz.
- Andere Menschen lernen eine Fremdsprache am leichtesten dadurch, daß man ihnen deren Funktionieren erklärt. Wenn sie die Regeln und Ausnahmen verstanden haben, sind sie sicher, das Gelernte korrekt anwenden zu können. Schieres Nachahmen fällt ihnen dagegen schwer. Ihre Begabung liegt eher auf der Ebene der reflexiven Kompetenz.
Da es solche unterschiedlichen Lernertypen gibt, ist jegliche simple Theorie des Fremdsprachenunterrichts, so wie sie etwa die “kommunikative Wende” brachte, unangemessen. Es bleibt vielmehr dabei, daß vollkommene Sprachbeherrschung prozedurale und reflexive Kompetenz umfaßt und daß Sprachunterricht das zu berücksichtigen hat.
1 Polyglossie ist zwar das griechische Übersetzungsäquivalent zu dem lateinischen Multilinguismus, aber der Ausdruck bezeichnet die Beherrschung vieler Sprachen durch ein Individuum.
Schmitt-Brandt, Robert 2019, Wie nützlich ist es dann und wann, wenn man 'ne fremde Sprache kann. Dettelbach: J.H. Röll