Die Germanische Lautverschiebung heißt auch, im Verhältnis zur Hochdeutschen Lautverschiebung, die erste Lautverschiebung. Die betroffenen regelmäßigen Entsprechungen zwischen Germanisch und anderen indogermanischen Sprachen wurden von Rasmus K. Rask entdeckt; sie wurden von J. Grimm 1822 im “Grimmschen Gesetz” systematisiert.
Die Lautverschiebung betrifft nur die Plosive und sollte deshalb höchstens “Konsonantenverschiebung” heißen. Sie setzt das indogermanische System der Plosive voraus, welches folgende Artikulationsarten unterscheidet: [± stimmhaft] und [± aspiriert]. M.a.W., es gibt vier Klassen von Plosiven:
- [- stimmhaft, - aspiriert]: /p t k kʷ/
- [- stimmhaft, + aspiriert]: /pʰ tʰ kʰ kʰʷ/
- [+ stimmhaft, - aspiriert]: /b d g gʷ/
- [+ stimmhaft, + aspiriert]: /bʰ dʰ gʰ gʰʷ/
Die Germanische Lautverschiebung ist ein Lautwandel, der frühestens im 5., vielleicht aber auch erst im 1. Jh. v.Ch. im Urgermanischen stattfindet. Sie sondert folglich das Urgermanische von den anderen indogermanischen Sprachen ab. Sie überführt das obige Plosivsystem in das urgermanische Obstruentensystem, und zwar in drei aufeinander aufbauenden Einzelverschiebungen (in den folgenden Tabellen wird zur Illustration des germanischen Zustandes nicht Deutsch, sondern Englisch herangezogen, weil deutsche Beispielwörter notwendigerweise zusätzlich von der zweiten Lautverschiebung befallen wären):
1. Stimmlose Plosive werden frikativ
Zur Vorbereitung gehen die unaspirierten stimmlosen Plosive in die Gruppe der aspirierten über, d.h. die Opposition zwischen den ersten beiden obigen Klassen verschwindet. Die eigentliche Verschiebung besteht darin, daß die (nunmehr sämtlich aspirierten) stimmlosen Plosive Frikative werden. Dies geschieht in allen Kontexten außer nach /s/.
Input | Output | Beispiel | |
[- stimmhaft] | [+ kontinuant] | lat. | engl. |
p, pʰ | f | pede | foot |
t, tʰ | θ | tres | three |
k, kʰ | χ | corde | heart |
kʷ, kʷʰ | χʷ | quod | what |
2. Unaspirierte Plosive werden stimmlos
In diesem Augenblick gibt es nur noch stimmhafte unaspirierte Plosive, die von dieser zweiten Verschiebung erfaßt werden können.
Input | Output | Beispiel | |
[- aspiriert] | [- stimmhaft] | lat. | engl. |
b | p | lit. slãbnas | sleep |
d | t | decem | ten |
g | k | ager | acre |
gelidus | cold | ||
gʷ | kʷ | venio (ai. gam-) | come |
3. Plosive werden unaspiriert
In diesem Augenblick gibt es nur noch stimmhafte aspirierte Plosive, die von dieser dritten Verschiebung erfaßt werden können. Sie werden zunächst frikativ (wodurch das Merkmal der Aspiration irrelevant wird); und diese Frikative werden schließlich wieder plosiv.
Input | Output | Beispiel | ||
[+ plosiv] | [- aspiriert] | altind. | germ. | Bedeutung |
bʰ | b | nábʰa- | ahd. nebul | Nebel |
dʰ | d | mádʰya- | got. midjis | mittlerer |
gʰ | g | stigʰnute | got. steigan | steigen |
gʷʰ | gʷ | gʰarmá- | got. warm | warm |
Es gibt verschiedene Versuche, die Gesamtheit der drei Verschiebungen als funktionale Einheit zu fassen. Seit Grimm sind sie z.B. als kreisförmige Verschiebung aufgefaßt worden.