“Kompetenz” und “Performanz”
Statt Redeerzeugung und Redeverstehen wird oft auch Sprachproduktion und Sprachrezeption gesagt; aber Sprachen produzieren neben Tolkien eigentlich nur die Informatiker. Die Problematik ist auch unter den Begriffen Sprachverarbeitung und Aktualgenese von Sprache bekannt. Gemeint sind jedenfalls die mentalen, neuralen und physischen Vorgänge, die für das Sprechen und Redeverstehen verantwortlich sind. Die strukturale Linguistik hatte sich von Anfang an bemüht, diese Problematik aus ihrem Gegenstandsbereich herauszuhalten. De Saussure (1916) hatte dafür den Begriff der ‘parole’ geprägt und gesagt, dafür sei die Psychologie, nicht die Linguistik zuständig. Ganz ähnlich hatte Chomsky (1965) zwischen Kompetenz und Performanz unterschieden: Die Kompetenz ist das “implizite Wissen” des Sprecher-Hörers von seiner Sprache, das statisch in seinem Kopf repräsentiert ist. Performanz ist das Vorbringen und Verstehen sprachlicher Äußerungen einschließlich der daran beteiligten psychischen usw. Vorgänge und insbesondere einschließlich aller solcher Faktoren wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit, Verwirrung, Suff, welche zu Fehlern und Beschränkungen führen, für die sich die Systemlinguistik nicht interessiert. Diese hat lediglich die Kompetenz zum Gegenstand.
Die Unterscheidung hat sich als eine unfruchtbare Idealisierung erwiesen. Das Einzige, was daran begründet ist, ist das Interesse, für viele Erkenntniszwecke Versprecher, Neuanfänge, Berichtigungen u.ä. aus den zu beschreibenden Daten herauszuhalten. Das ist aber unproblematisch: Man kann jederzeit dem Sprecher vorhalten, was er tatsächlich gesagt hat, und ihn fragen, ob er genau so sagen wollte. Dann wird er Versprecher und dergleichen selbstverständlich korrigieren. Eigenheiten seiner Äußerung, die mit seinem Sprachgebrauch verträglich sind, wird er dagegen stehen lassen, gleich ob der (normative) Linguist sie grammatisch findet oder nicht. Im übrigen sind Versprecher, Selbstkorrekturen und dergleichen ein wichtiger methodischer Anhaltspunkt, um den beim Sprechen ablaufenden Prozessen auf die Spur zu kommen (s. unten). Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz ist im Begriff der Sprachtätigkeit aufgehoben. Und diese nimmt eben die beiden Formen des Sprechens und Verstehens an. Wenn der Systemlinguist sich auf den Begriff der Sprachtätigkeit einläßt, macht er die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Psycholinguisten möglich.
Redeerzeugung
Die Redeerzeugung kann man sich als einen Vorgang vorstellen, der mehrere Stufen durchläuft:
- Der Sprecher konzipiert einen bestimmten Gedanken, den er mitteilen will.
- Er wählt gemäß seiner Einschätzung des augenblicklichen Zustandes des Redeuniversums das aus, was er kodiert, gegenüber dem, wovon er annimmt, daß der Hörer es auf andere Weise verstehen wird.
- Er gliedert das zu Kodierende im Sinne der Informationsstruktur.
- Er wählt Lexeme aus, welche die einzelnen Begriffe und Vorstellungen versprachlichen.
- Er konstruiert aus den Lexemen und den durch die vorigen Schritte spezifizierten Relationen die grammatische Struktur seiner Äußerung, d.h. er bildet einen Satz.
- Die mit den sprachlichen Einheiten gegebenen Significantia konkretisiert er sequentiell als phonetische Repräsentationen, die er in einen Ausgabepuffer schiebt.
- Er setzt den Inhalt des Ausgabepuffers artikulatorisch um.
Auf allen diesen Stufen können Fehler passieren; aber es läuft auch gleichzeitig ein “Monitor” mit, d.h. der Sprecher kontrolliert sich selbst und verhütet zahlreiche Fehler, noch bevor sie die letzte Stufe des Prozesses erreichen. Zum Schluß hört er sich selbst sprechen. Wenn er dabei einen Fehler entdeckt, muß er entscheiden, ob er ihn korrigieren will, dann entsprechend in seiner Äußerung zurückgehen bis vor den Punkt, wo der Fehler auftrat, und noch einmal formulieren. Letzteres nennt man Reparatur.
Die systematische Analyse von Versprechern ist übrigens, wie gesagt, erkenntnisträchtig. Zuständig ist die Fehlerlinguistik (nicht zu verwechseln mit der Fehleranalyse, einer Disziplin der Angewandten Sprachwissenschaft). Man betrachte z.B. folgende beiden (wirklich vorgekommenen und aufgezeichneten) Versprecher:
. | Sein Fischer - hehe - sein Lehrer war der Edwin Fischer. |
. | Wahrscheinlich spannt man den vor'n Pferd - hinter'n Pferd, meine ich. |
In nimmt der Sprecher an der Stelle, wo er Lehrer sagen wollte, das Wort Fischer vorweg, welches erst vier Wörter später an der Reihe war. Die Quelle des Versprechers befindet sich also auf der syntagmatischen Achse; es handelt sich um einen Kombinationsfehler. Er kann z.B. als Evidenz dafür dienen, wie weit wir beim Sprechen vorausplanen, und daß sich in dem Moment, da ein bestimmtes Wort des Ausgabepuffers abgearbeitet wird, schon mindestens die vier nächsten Wörter darin befinden. Ferner wird hier ein Substantiv durch ein Substantiv ersetzt, und zwar eines, das ungefähr gleich starken Satzakzent hat. Ein Versprecher Sein der - hehe, sein Lehrer war der Edwin Fischer ist unmöglich. Selbst die sprachlichen Fehlleistungen folgen Prinzipien; und dasselbe gilt übrigens für ihre Reparaturen.
In sagt der Sprecher vor, wo er hinter sagen wollte. Die Quelle des Versprechers befindet sich also auf der paradigmatischen Achse; es handelt sich um einen Selektionsfehler. Er kann z.B. als Evidenz dafür dienen, daß die Mitglieder eines semantischen Gegensatzpaars im Gedächtnis “nebeneinander” abgespeichert sind, d.h. so, daß wenn das eine aktiviert wird, das andere mitaktiviert wird.
Beide Versprecher sind also Evidenz für die psychische Realität des systemlinguistischen Konstrukts der paradigmatischen und syntagmatischen Relationen sowie der ihnen entsprechenden Operationen der Selektion und Kombination. Aufgrund solcher Daten kann man ein Modell entwickeln, wo Einheiten des Ausgabepuffers zum Zwecke der Artikulation aktiviert werden. Die Einheit, die jeweils an der Reihe ist, sollte dazu ein höheres Aktivierungspotential bekommen als die syntagmatisch und paradigmatisch benachbarten Einheiten. Aber eben durch die syntagmatischen und paradigmatischen Relationen bekommen solche letzteren Einheiten doch von dem Potential etwas ab. Der Fehler besteht dann darin, daß dieses Nebenpotential zu groß wird, daß also die bezogene statt der gesollten Einheit zur Artikulation aktiviert wird.
Redeverstehen
Redeverstehen könnte man als einen Vorgang konzipieren, der in umgekehrter Richtung verläuft:
- Ein phonetischer Schall dringt an des Hörers Ohr.
- Er analysiert den phonetischen Strom und projiziert die gewonnenen Einheiten auf Significantia von Sprachzeichen.
- Somit hat er auch deren Significata. Aus denen und der grammatischen Struktur des Satzes konstruiert er sich dessen Bedeutung.
- Jetzt gleicht er die Satzbedeutung mit dem Redeuniversum und der außersprachlichen Information, über die er verfügt, ab, um den Sinn des Gesagten zu konstruieren.
- Schließlich überprüft er die aktuelle soziale Situation und schließt auf diese Weise, ob er irgendwie reagieren muß.
All diese Dinge tut der Hörer zwar wirklich, aber diese Stufenfolge ist doch viel zu simpel und schematisch. Der wesentlichste Faktor, der noch zu berücksichtigen ist und das Modell entscheidend ändert, ist die Empathie, die der Hörer mit dem Sprecher hat. Er versteht den Sprecher dadurch, daß er sich in dessen Rolle versetzt. Er macht also eine Vorausplanung ganz wie der Sprecher auch. Aufgrund der Situation und des sprachlichen Kontextes kann er weitgehend antizipieren, was der Sprecher sagen wird. Korrekte Vorannahmen helfen ihm entscheidend beim Dekodieren der Nachricht. Es kommt ja auch nicht selten vor, daß der Hörer schneller als der Sprecher sagt, was dieser sagen wollte. Der Hörer durchläuft also nicht in erster Linie ‘bottom-up’ den Prozeß, den der Sprecher ‘top-down’ durchlaufen hatte, sondern er begleitet den Sprecher in der Erzeugung von Sinn und benutzt das, was er hört, weitgehend bloß als Korrektiv für seine Sinnkonstruktion.
Dabei läßt auch der Hörer immer einen “Monitor” mitlaufen, der kontrolliert, ob der konstruierte Sinn zu allem paßt, was der Hörer sonst gehört hat oder für wahr hält. Im Falle des Verhörens muß er, ähnlich wie der Sprecher, in dem auditiven Eindruck, den das Gehörte in seinem Kurzzeitgedächtnis hinterlassen hat, zurückgehen und die Analyse wiederholen.
Übrigens nimmt natürlich auch der Sprecher Rücksicht auf die Verständnismöglichkeiten des Hörers. Z.B. kann ein Sprecher – oder wahrscheinlicher ein Schreiber – ein Homonym vermeiden, um Mißverständnisse zu vermeiden. Daß jedoch ein in Betracht gezogener Ausdruck homonym ist, kann der Sprecher nur feststellen, wenn er von dessen Significans zu den Significata geht, wenn er sich also in die Rolle des Hörers versetzt. Sprachliche Verständigung wird dann am besten verwirklicht, wenn Sprecher und Hörer in der geschilderten Weise kooperieren.
Bewußtsein
Bei dieser Darstellung ist gelegentlich von Vorgängen die Rede gewesen. Genau genommen sind es teils Vorgänge, teils Handlungen. Der Unterschied besteht darin, daß Handlungen bewußt gesetzte Ziele verfolgen.1 Tatsächlich haben, wie auch im Kapitel über Sprechakte dargestellt, alle Komponenten der Sprachtätigkeit ihren Platz in einer teleonomischen Hierarchie. An deren Spitze stehen bewußt gesetzte – und zwar typischerweise außersprachliche – Ziele, die der Sprecher und der Hörer durch Handlungen verfolgen. Ihnen ordnen sich elementarere Handlungen unter, und diese haben wiederum den Status von Zielen für Vorgänge, die eher unbewußt ablaufen. Von hier an bis zum Boden der Hierarchie werden die Vorgänge zunehmend automatisiert und können schließlich nicht einmal mehr bewußt gemacht werden. Letzteres trifft z.B. auf die Artikulationsbewegungen zu. Diese zunehmende Automatisierung korreliert mit der in §2 dargestellten schrittweisen Versprachlichung des Gedankens durch den Sprecher. Sie läßt sich wie folgt an einem Beispiel illustrieren:
Eigenschaften der Komponente | sprachliche Operation | |||
---|---|---|---|---|
allgemein | Beispiel | |||
bewußt | frei gewählt | Handlung | außersprachliches Ziel | Identifikation des Täters |
↑ | Sprechakt | Frage | ||
| | Satztyp | Interrogativsatz | ||
| | Lexem/Formativ | humanes Interrogativpronomen | ||
| | morphologische Anpassung | Nominativ | ||
| | Significans | /ve:r/ | ||
↓ | phonetische Realisierung | [veːɐ] | ||
unbewußt | automatisch | Vorgang | Erzeugung von Schallwellen |
Die kognitiven und kommunikativen Funktionen, die wir durch Sprachtätigkeit erfüllen, sind also unseren Intentionen und Motivationen, folglich unseren obersten Zielen näher, während die sprachlichen Strukturen überwiegend Mittel zum Zweck sind. Danach richtet sich das Vorgehen sowohl des Sprechers als auch des Hörers: Für beide ist das oberste semiotische Ziel nicht die Erzeugung eines sprachlichen Ausdrucks, sondern die Vermittlung von Sinn.
- Daher kodiert der Sprecher (i.e. setzt er in einen sprachlichen Ausdruck um) nur das, was nötig ist.
- Daher nutzt der Hörer den sprachlichen Ausdruck nur insoweit, wie er ihn zur Konstruktion des Sinns benötigt.2
Dieselbe Hierarchie erweist sich auch im Memorieren sprachlich aufgenommener Informationen. Wie Experimente bestätigen, vergißt der Hörer den Wortlaut am ehesten, während er den Sinn der Nachricht länger im Gedächtnis behält. Die sprachliche Form wird typischerweise nur im Kurzzeitgedächtnis verarbeitet, während der Inhalt ins Langzeitgedächtnis übergeht.
1 Dem Begriffspaar ‘Handlung (engl. act) vs. Vorgang (process)’ ist das Paar ‘Tätigkeit (activity) vs. Verhalten (behavior)’ analog: das Unterscheidungskriterium ist dasselbe, nur die Komplexitätsstufe ist höher. Insofern deckt weder der hier stets verwendete Begriff ‘Sprachtätigkeit’ noch der sonst anzutreffende Begriff ‘Sprachverhalten’ die Bandbreite der teleonomischen Hierarchie ab.
2 Eine Ausnahme bilden Nachrichten, bei denen die poetische Funktion im Vordergrund steht. Hier achten die Kommunikationspartner in besonderer Weise auf die sprachliche Form.