Das menschliche Gehirn enthält – ebenso wie das anderer Primaten – eine Gattung von Neuronen (Nervenzellen), die feuern, wenn der Mensch bestimmte Dinge tut oder erleidet, und die ebenfalls feuern, wenn der Mensch lediglich wahrnimmt, wie ein Mitmensch solche Dinge tut oder erleidet. Diese Neuronen heißen Spiegelneuronen. Ihre Aktivierung geht unter verschiedenen Bedingungen verschieden weit. Im Extremfall spürt der Mensch körperliches Unbehagen, wenn er jemand anders leiden sieht oder auch nur darüber hört. Die meisten Leser können dies leicht nachvollziehen, wenn ich ihnen hier plastisch berichte, wie ich mir einen Splitter unter den Fingernagel gerammt habe. Ein anderes Beispiel ist das Gähnen, das ansteckend ist. Ebenso setzen Menschen u.U. reflexartig zu denselben Aktionen an, zu denen sie jemand anders ansetzen sehen, z.B. im Kino. Dazu gehört auch die Produktion von Geräuschen: Hört der Mensch jemand anders Geräusche machen, so feuern diejenigen Spiegelneuronen, die auch aktiv wären, wenn der Mensch selbst diese Geräusche machte. Z.B. ist auch Lachen ansteckend.

Spiegelneuronen befinden sich an verschiedenen Stellen im Hirn, die für Motorik zuständig sind, insbesondere auch im Broca-Zentrum, das ja die Sprachmotorik kontrolliert. Es ist gesichert, daß phonetische Wahrnehmung von anderer auditiver Wahrnehmung kategorial verschieden ist. Insbesondere ist (bei Rechtshändern) das rechte Ohr besser auf das Hören von Sprachlauten spezialisiert als das linke. Der Unterschied besteht offenbar darin, daß wir Sprachlaute als Geräusche wahrnehmen, die wir mit unserer motorischen Ausstattung auch machen könnten. In der Tat gibt es – und zwar schon vor der Entdeckung der Spiegelneuronen (1995) – Theorien des Redeverstehens, welche den für die Artikulation zuständigen Nervenapparat einbeziehen. Die motor theory of speech perception (Liberman & Mattingly 1985) besagt, daß die Wahrnehmung von Sprachlauten unmittelbar diejenigen Nerven anregt, welche zur Erzeugung derselben Sprachlaute aktiv wären.

Die Motor-Theorie des Redeverstehens kann freilich das Redeverstehen nicht restlos erklären. Beim primären so wie beim sekundären Spracherwerb geht die passive Sprachbeherrschung der aktiven voraus. Sie bezieht sich auch bloß auf die segmentale Phonetik. Die Theorie der Spiegelneuronen bezieht jedoch das gesamte wahrgenommene kommunikative Verhalten ein: Der Verstehende nimmt die Intonation des Sprechers wahr und spürt so die Wärme oder die Wut, die in seiner Rede liegt. Er sieht seine Mimik und Gestik, und diese läßt ihn die Stimmung des Sprechers nachfühlen. Die Spiegelneuronen lassen den Verstehenden unmittelbar die Erfahrung machen, die man macht, wenn man so etwas sagt bzw. so redet.

Die Theorie der Spiegelneuronen ist von erheblicher Konsequenz für den Primärspracherwerb. Denn wenn beim Redeverstehen diejenigen Nerven angeregt werden, die man zum Erzeugen derselben Nachricht braucht, ist Kindern, die die Erzeugung lernen, ein großer Teil des Lernens abgenommen.

Wie überall gibt es in bezug auf die Ausstattung mit Spiegelneuronen individuelle Unterschiede zwischen Menschen. Sie äußern sich in dem Maß an Empathie, das jemand für andere Menschen empfindet.

Literatur

Liberman, Alvin M. & Mattingly, Ignatius G. 1985, "The motor theory of speech perception revised." Cognition 21:1-36.