Einleitung

Menschen haben ein grundsätzliches Erkenntnisinteresse am Ursprung eines Gegenstands, weil sie dadurch sein Wesen besser verstehen. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache hat deshalb Linguisten wie Laien seit jeher beschäftigt. Sie konnte jedoch bis in die jüngste Gegenwart hinein schlechterdings nur spekulativ behandelt werden. Frühere Theorien und methodische Ansätze zu dieser Fragen haben immerhin ein historisches Interesse.

Zunächst ist es wichtig, die Fragen nach dem Ursprung der Sprache und nach dem Ursprung der Schrift auseinanderzuhalten. Der Ursprung der Schrift ist historisch einigermaßen gesichert, nämlich bei den Sumerern um 3.500 v.Ch. Da die Schrift aber gegenüber der Lautsprache sekundär ist, würde dies bestenfalls einen Terminus ante quem für den Ursprung der Sprache ergeben. Wir werden aber unten sehen, daß dieser um Größenordnungen früher liegen muß.

Seit dem Altertum wurden verschiedentlich Experimente mit Kindern zur Feststellung der Ursprache durchgeführt. Herodot berichtet, daß Pharao Psammetich (664-610), um die "natürliche" Sprache festzustellen, zwei Kinder sprachlos aufziehen ließ. Das erste geäußerte Wort war bekos, phrygisch für "Brot". Auch Friedrich II. von Hohenstaufen ließ (1300) zwei Kinder von Ammen aufziehen, die nicht mit ihnen sprechen durften, aber die Kinder starben. Auch James IV. von Schottland (1473-1513) ließ ein ähnliches Experiment durchführen; diese Kinder sprachen Hebräisch.– Alle bezeugten Fälle von "wilden" Kindern (wie Kaspar Hauser [Ansbach, 1812-1833]) und Genie (Los Angeles, 1957-) waren sprachlos.

Ältere Theorien über die früheste Sprache

Die bemerkenswertesten spekulativen Beiträge zum Sprachursprung sind die folgenden:

  1. In Platons Dialog Kratylos vertritt der Titelgeber die Ansicht, alle Wörter seien ursprünglich onomatopoetisch motiviert gewesen.
  2. J.J. Rousseau vertritt in seinem Essai sur l'origine des langues (1755) eine empiristische Position. Sprache ist die Fortsetzung vormenschlicher Lautäußerungen, besteht also zunächst in Naturlauten und emotiven Interjektionen, die sekundär auch als Reaktion auf Beobachtungsdaten geäußert werden. Erst später werden allgemeine und abstrakte Begriffe gebildet. Grundlage der Sprache und wesentlicher Unterschied zu Tieren ist des Menschen "Wille, frei zu sein".
  3. Eine weitere Ansicht wird ebenfalls von Rousseau vertreten, nämlich daß es vor der Lautsprache nur Gestik gegeben habe. Diese These wird 1930 von Richard Paget in dem Sinne umgedeutet, daß die Gesten sich, da andere Körperteile für andere Aufgaben gebraucht wurden, auf Gesten der Sprechwerkzeuge beschränkt hätten.1
  4. Von A.R. Luria (1970), einem sowjetischen Psychologen, stammt die Theorie, die ersten Sprachlaute seien zur Steuerung der gemeinsamen Arbeit eingesetzt worden.

Solche Theorien wurden schon früh ironisiert, so von dem Sprachwissenschaftler Max Müller um die Mitte des 19. Jh. Daher heißen sie auch, in obiger Reihenfolge, die Wauwau-Theorie, Aua-Theorie, Dada-Theorie und Hauruck-Theorie.

Johann Peter Süßmilch argumentiert (1756, gegen Rousseau), daß alle existierenden Sprachen auf derselben vollkommenen Evolutionsstufe sind, und gibt Beispiele von der Sophistizität sog. primitiver Sprachen. Da Sprache und Denken sich gegenseitig voraussetzen, könne die Sprache nur von Gott gegeben sein.

Johann Gottfried Herder verfaßt 1770 eine Preisschrift “Uber den Ursprung der Sprache”, wo er eine ähnliche rationalistische Position vertritt: Sprache und Denken gehören untrennbar zusammen, sind angeboren und bei der Menschwerdung gemeinsam gegeben. Menschliche Sprache verhält sich also zu Tierlauten wie das Denken zum Instinkt.

Derlei Spekulation hatten die Gründer der (bis heute bestehenden) Société de Linguistique de Paris offenbar gründlich satt, denn sie setzten in den Statuten von 1886 fest: "La Société n'admet aucune communication concernant, soit l'origine du langage, soit la création d'une langue universelle".2 Erst etwa seit 1970 nehmen Arbeiten zu diesem Thema – außer in der SLP – wieder zu.

Unter den Fragen, die eine Theorie des Ursprungs und der Evolution der Sprache zu klären hätte, sind die folgenden:

Entstehung von Homo sapiens

Die Anthropologie sieht die Entwicklung der Sprache im Zusammenhang mit der anatomischen Entwicklung. Einige der sogleich zu besprechenden Einzelbeziehungen sind in der Tat plausibel oder sogar notwendig. Aber das Argument ist nicht einfach. Die Gebärdensprache der Taubstummen erweist, daß die anatomische und physiologische Ausrüstung für die Lautsprache nicht für die Entwicklung von Sprache überhaupt Voraussetzung ist. Und andererseits zeigt das Faktum, daß Papageien sprechen können, daß sie offenbar über eine der Lautsprache dienende anatomische Ausrüstung verfügen; aber diese ist ebenso offenbar keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung von Sprache.

Folgende Merkmale der anatomischen und physiologischen Entwicklung des Menschen sind für die Sprachevolution von Bedeutung:

Folgende Merkmale der neuralen und kognitiven Entwicklung des Menschen sind für die Sprachevolution von Bedeutung:

Bei der Beschreibung und Erklärung dieser Verhältnisse muß man sich vor einseitigen Kausalitäten hüten: Die Ausstattung der “Hardware” ist nicht einfach Voraussetzung für die Entwicklung der “Software”. Vielmehr geht die Entwicklung beider gemeinsam vonstatten: Indem die Anforderungen an die Denk- und Sprachfähigkeit steigen, werden solche Individuen in der Evolution selektiert, die die physischen Voraussetzungen dafür mitbringen.

Folgende Tabelle resümiert die Chronologie der Entwicklung von Homo sapiens aus den Hominiden.

Hauptstufen der Entstehung von Homo sapiens
Zeit v. Ch. PeriodeEntwicklungsstufeKultur
7.000.000 Sahelanthropus Tchadensiskeine
3.250.000Australopithecusgelegentlicher Gang auf den Hinterbeinen
2.400.000Prä-Paläolithikum Homo rudolfensis und habilis (Gattung daneben: Paranthropus)einfache Steinwerkzeuge
1.800.000Alt-Paläolithikum Homo erectus: Ur- oder Frühmensch (70.000 ausgestorben)aufrechter Gang, Faustkeil, Feuer (500.000), Jagd
400.000 Archaischer Homo sapiens: Altmensch
(Art daneben: Homo Neanderthalensis; 28.000 ausgestorben)
Werkzeuge aus Steinabschlägen
150.000 Mittel-Paläolithikum Homo sapiens: Jetztmensch* angepaßt an Kälte; Bestattung.
90.000: Beginn der Abwanderung aus Afrika
50.000Jung-PaläolithikumHomo sapiens wandert nach Asien, Europa, Australien; Kunst; Pfeil und Bogen (20.000)
8.000NeolithikumSeßhaftigkeit, Ackerbau, komplexe Gesellschaften

* Bis 1990: Homo sapiens sapiens

Die wichtigsten Stationen auf diesem Entwicklungsgang sind in Kürze die folgenden: Der Australopithecus unterscheidet sich von den anderen Primaten u.a. durch ein etwas größeres Schädelvolumen. Spätere Formen des Australopithecus können schon aufrecht gehen. Der Homo erectus geht grundsätzlich aufrecht und hat mithin die Hände zum Handeln frei. Seit etwa zwei Millionen Jahren gibt es sichere Anzeichen für die Herstellung von Artefakten (i.w. Faustkeilen), seit einer halben Million Jahren Indizien für den Gebrauch von Feuer. Gleichzeitig ist die Zerebralisierung zu verfolgen, die besonders seit der Entstehung des Altmenschen mit Riesenschritten weitergeht. Seit dem Mittelpaläolithikum sind Kulthandlungen, insbesondere Bestattung, sowie Kleidung nachweisbar. Seit etwa 50.000 v.Ch. erscheint der aus Afrika ausgewanderte Homo sapiens in Asien, Europa und Australien. Um 32.000 v.Ch. tritt der Cromagnon-Mensch in Europa in Erscheinung und verdrängt den Neandertaler. Er baut bereits Häuser und ist, abgesehen vom Zivilisationsstand, ein Mensch wie wir. Entsprechend der Fundlage ist 50.000 v.Ch. ein (maximal konservativer) Terminus ante quem für die Entstehung des modernen Menschen.

Wenn wir die Evolution der Sprache mit der von Homo sapiens in Parallele setzen, müssen wir also annehmen, daß Sprache im heutigen Sinne seit mindestens 50.000 Jahren besteht. Anders gesagt, für die erste Phase der Evolution der Sprache, nämlich ihre Herausbildung, können fast zwei Millionen Jahre angesetzt werden. Die zweite Phase, die die Weiterentwicklung und den historischen Wandel der Sprachen umfaßt, dauert dagegen "erst" 150.000, mindestens jedoch 50.000 Jahre.

Ursprung und Evolution der Sprache

Folgende Methoden werden zur Erforschung von Ursprung und Evolution der Sprache angewandt:

  1. Man geht per Analogie zu bekannten elementareren Formen der Sprache vor. Dafür kommen infrage: Kindersprache, Pidginsprachen und evtl. existente primitive Sprachen.
    • Kinder erwerben die Sprache in der Tat von rudimentären Anfängen schrittweise bis zur Erwachsenensprache. Aber die Analogie zur Ursprache der Menschheit, also die Analogie zwischen Phylogenese und Ontogenese, hinkt gewaltig. Kinder lernen sprechen durch Kontakt mit Menschen, die die ausgebildete Sprache beherrschen und sie da hinführen. Die Chance hatten Adam und Eva nicht. Um Ursprung und Evolution der Sprache zu verstehen, braucht man nicht eine empirische Analogie, sondern allein die theoretische Kenntnis vom logischen Aufbau eines Systems.
    • Pidginsprachen bilden sich in Situationen heraus, wo Menschen sich verständigen müssen, die keine Sprache gemeinsam haben. Es ist behauptet worden (Bickerton 1981), daß hier Sprachen ex nihilo erfunden würden und daß man folglich an Pidginsprachen studieren könne, wie die Sprache entsteht. Aber erstens stimmt auch diese Analogie nicht. Denn die Menschen, die gemeinsam eine Pidginsprache schaffen, wissen alle schon, was menschliche Sprache ist, und beherrschen mindestens eine davon. Und zweitens ist es empirisch erwiesen, daß Pidginsprachen nicht aus dem Nichts entstehen, sondern auf Substratsprachen basieren.
    • Erst seit dem 21. Jh. wird ernsthaft darüber geforscht, ob es primitive Sprachen gibt. Sie sind natürlich nicht definiert als Sprachen von primitiven Völkern, sondern als Sprachen, deren System weniger komplex ist als das der sonst bekannten Sprachen. Tatsächlich aber werden die bisher angeführten Kandidaten für die Klasse der primitiven Sprachen von Stämmen in Amazonien und den Philippinen gesprochen, die der Segnungen der Zivilisation noch nicht teilhaftig geworden sind. Beim jetzigen Kenntnisstand erscheint es möglich, daß es tatsächlich Sprachen gibt, die in verschiedener Hinsicht einfacher gebaut sind als Sprachen sogenannter Kulturvölker. Es geht aber allenfalls um Komplexität, die in der Spätphase der Sprachevolution, also vielleicht in den letzten 50.000 Jahren dazugekommen ist. Es gibt auf dem Globus keine Sprache, die dem Ursprung der menschlichen Sprache nahestünde.
  2. Man geht retrospektiv vor, versucht also, aus historischen Sprachen die Ursprache der Menschheit zu rekonstruieren. Das wird zwar immer wieder gemacht, ist jedoch unwissenschaftlich. Die einzige allgemein anerkannte (und in der Tat wohlbegründete) Methode zur Rekonstruktion von Ursprachen ist die historisch-vergleichende Methode. Die mit ihr erreichbare zeitliche Tiefe beträgt bestenfalls 3.000 Jahre. Bis zum spätestmöglichen Zeitpunkt der Ausdifferenzierung der Sprachen (50.000 v.Ch.) besteht ein Abstand, der mit keiner bekannten Methode überbrückt werden kann.
  3. Man geht prospektiv vor, versucht also, aus den Kommunikationssystemen der Primaten einen Anfangspunkt zu konstruieren und von da aus die menschliche Sprache, so wie heute bekannt, systematisch aufzubauen. Dieser Ansatz hat einiges mit den Spekulationen des 18. und 19. Jh. gemeinsam und ist ihnen gegenüber lediglich dadurch im Vorteil, daß die Linguistik mittlerweile wesentlich mehr über den Aufbau des Sprachsystems weiß und deswegen diese Konstruktion mit mehr Sicherheit vornehmen kann. Dieser Ansatz soll im folgenden skizziert werden.

Der wichtigste Unterschied zwischen Kommunikationssystemen von Affen und der menschlichen Sprache liegt in der Effabilität der letzteren, die untrennbar mit der zweifachen Gliederung zusammenhängt. Die ungeheure Leistung, die der Vormensch auf dem Weg vom Homo habilis zum Homo sapiens vollbrachte, war also die Herausbildung der zweifachen Gliederung der Sprache (vgl. Hockett & Ascher 1964, Hoijer 1969).

Damit geht ein Wandel in der Motivation der Zeichen einher:

Die Herausbildung dieser drei Typen von Zeichen geht mit der Herausbildung der zweifachen Gliederung einher. Sowohl die zweifache Gliederung als auch die Verwendung symbolischer Zeichen, und erst recht die Verwendung von Grammatik, sind das kognitive Gegenstück zur Entwicklung der analytischen Fähigkeiten der linken Hemisphäre. Folgende systematische Diachronie – versuchsweise gekoppelt an die datierbare Vorgeschichte der Menschheit – erscheint denkbar:

Stufen der Sprachevolution
BeginnHominideSprachstrukturZeichenGrammatik/Komplexität
2.400.000Homo (rudolfensis) Gestik (Zeigen, Winken usw.) (kein Code)
Lautliche Äußerungen begleiten zunächst Gesten; sind holophrastisch, haben keine Gliederung. großenteils indexikalisch
Laute bekommen die Bedeutung der Gesten, erübrigen somit die Gesten.
1.800.000Homo erectus erste Gliederung in signifikative Einheiten
Situationsentbundene Äußerungen werden möglich.
großenteils ikonisch, also i.w. onomatopoetisch und lautsymbolischMehrere Zeichen werden zu einer Äußerung kombiniert.
400.000Archaischer Homo sapiens zweite Gliederung in distinktive Einheiten überwiegend symbolisch, also konventionell und arbiträr einfache syntaktische Konstruktionen
150.000Homo sapiens Monogenese der menschlichen Ursprache Morphologisierung phonologischer Alternationen
Grammatikalisierung (Morphologisierung) syntaktischer Konstruktionen
50.000 vollentwickelte Sprachen;
volle Effabilität wird erreicht
Ausbau von Phonologie und Morphologie gemäß der Markiertheitstheorie
volle syntaktische Komplexität (zusammengesetzte Sätze)

Mit der zweifachen Gliederung war die Möglichkeit zu Sprachen im heutigen Sinne gegeben. Freilich war die jüngere Komplexität nicht gleich ausgebildet. Grammatik und Phonologie können sich erst entwickeln, nachdem die zweifache Gliederung vorhanden ist. Dies ist i.w. die Leistung von Homo sapiens.

Nach diesem Modell haben die Sprachfamilien sich ausdifferenziert von dem Moment an, wo verschiedene Stämme des Homo sapiens aus Ostafrika in alle Himmelsrichtungen auswanderten. Das war zu einem Zeitpunkt, da die Sprache zwar schon die zweifache Gliederung und die Grundlagen eines Systems, aber noch nicht die Komplexität hatte, die moderne Sprachen haben. Der Ausbau des Systems von Kategorien und Operationen in Grammatik, Phonologie und Semantik fand großenteils erst in den einzelnen Zweigen statt. Und dafür hinwiederum haben diese bis heute 50.000 Jahre Zeit gehabt – nach linguistischen Maßstäben mehr als genug, um sich sehr weit auseinander zu entwickeln und sehr unterschiedliche Lösungen für die universalen Aufgaben der Kognition und Kommunikation zu finden.


1 Die früheste Fassung dieser Theorie bei Gellius 10, 4, 4.

2 Die Gesellschaft läßt keine Vorträge über den Ursprung der Sprache und über die Schaffung einer Universalsprache zu.

3 Genauer: die Interjektion wauwau hat eine ikonische Beziehung zum Bellen, und das Bellen hat eine indexikalische Beziehung zum Hund. Letztere geht ebenfalls in die Bildung des Zeichens ein, wenn Wauwau “Hund” bedeutet.