Vorbemerkung

Hier wird ein summarischer Überblick über die Entwicklung der Sprachwissenschaft geboten, in Anspruch und Umfang einer Lektion einer Einführung in die Linguistik angemessen. Die Website ‘Klassiker der Sprachwissenschaft’ ist zur Gänze der Geschichte der Sprachwissenschaft (auf fortgeschrittenem Niveau) gewidmet.

Im Zentrum der Sprachwissenschaft steht die Systemlinguistik, die im akademischen Betrieb am typischsten durch die Allgemeine Sprachwissenschaft repräsentiert ist. Deshalb steht sie auch im Zentrum einer Geschichte der Sprachwissenschaft. Die in Lektion 9 - 13 dieser Einführung behandelten Richtungen der Sprachwissenschaft werden daher hier nur am Rande behandelt. Außerdem beschränkt sich diese Darstellung, mit der Ausnahme der ersten beiden Abschnitte, auf okzidentale Wissenschaft.

Es folgt eine Zusammenschau der Etappen, in welche die Geschichte der Sprachwissenschaft im folgenden eingeteilt wird:

Nr. Periode Zeit
0. Erfindung des Alphabets (Phönizier) 13. Jh. v. Ch.
1. Altindische Grammatik 500 - 300 v. Ch.
2. Antike griechische und lateinische Grammatik 400 v. - 600 n.Ch.
3. Scholastik, Modismus 1200 - 1600
4. Allgemeine Grammatik 1650 - 1800
5. Philologien, polyglotte Sammlungen, Missionarsgrammatiken 1750 -
6. Indogermanistik 1816 -
7. Traditionelle Typologie, Humboldtianismus 1808 - 1966
8. Strukturalismus 1916 -
9. Generative Transformationsgrammatik 1957 -
10. Universalienforschung und Sprachtypologie 1963 -

Auch diese Einteilung greift nur einige wichtig gewordene Strömungen heraus und erhebt keinen Anspruch auf wissenschaftsgeschichtliche Dignität.

Entwicklung der Schrift

Schriftsysteme, die zu historischer Zeit entstanden – z.B. das koreanische Hangul –, haben manchmal einen Autor und ein Entstehungsdatum. Die Erfinder von Schriftsystemen, welche den ältesten erhaltenen Schriftdenkmälern zugrundeliegen, sind dagegen anonym. Es sind vermutlich nicht einmal einzelne Linguisten, sondern eher Generationen von Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft, welche kollektiv die Idee des Schreibens in einer bestimmten Weise entwickelt haben.

Die Erfindung der Schrift ist in diesem Sinne eine anonyme linguistische Leistung. Sie ist nach allem, was man weiß, den Sumerern zu verdanken, die zwischen -3.500 und -3.000 eine Menge von Symbolen, die sie zur Kennzeichnung von gehandelten und gespeicherten Waren benutzten, zu einer Logographie (nämlich ihrer Keilschrift) ausbauten. Immer wo sonst die Schrift unabhängig, also ohne Kontakt mit einer bestehenden Schriftkultur, erfunden wurde, wurde sie als Logographie erfunden. Alle bestehenden Phonographien gehen letzlich historisch auf eine Logographie zurück.

Bei den Sumerern finden sich ab -2.800 erste Anfänge einer Syllabographie, somit einer Phonographie. Aber erst die Akkader überführen ab -1.850 die sumerische Keilschrift in eine vollständige Syllabographie.

Etwa ab -2.500 werden in Ägypten Logogramme umgedeutet zu Zeichen, die für das Konsonantenskelett einer Wurzel stehen. Die Phönizier entwickeln zwischen -1.500 und -1.200 auf der Basis der ägyptischen hieratischen Schrift eine Schrift, wo jedes Schriftzeichen für einen Konsonanten steht. Dies ist also bereits eine alphabetische Schrift, wo jedes Schriftzeichen für einen Sprachlaut steht.

In den Jahrhunderten um -1.000 fügen die Phönizier und umliegende Semiten auch einige Buchstaben hinzu, die für alleinstehende Vokale stehen. In diesem Zustand lernen die Griechen im -9. Jh. das Alphabet von den Phöniziern kennen. Sie widmen jedem Vokal ihrer Sprache einen Buchstaben und redefinieren dazu Buchstaben des phönizischen Alphabets, deren Lautwerte es im Griechischen nicht gibt, als Vokalbuchstaben. Ab etwa -800 ist das griechische Alphabet Kern eines Schriftsystems, wo nicht nur jedes Schriftzeichen für einen Sprachlaut steht, sondern wo es auch für jeden Sprachlaut einen Buchstaben gibt. Dazu mußten die Griechen über eine Theorie ihres Phonemsystems verfügen.– Weiteres zur Geschichte des Alphabets auf der dedizierten Seite.

Altindische Grammatik

Nach der Invasion der Arier (etwa ab -1.300) entwickelt sich in Nordindien eine Hochkultur, die in vielem den gleichzeitigen europäischen Hochkulturen ähnlich, jedoch überlegen ist. Die ältesten Literaturwerke sind die Veden (Singular: Veda [m.], “[heiliges] Wissen”), poetische Texte überwiegend ritueller Natur. Ab etwa -500 wird für das Altindische eine Hochsprache kodifiziert, das Sanskrit (“polierte Sprache”), und es entsteht eine Philologie zum Zwecke der Pflege der vedischen Texte. So werden Glossare schwieriger vedischer Wörter angelegt. Hieraus entwickelt sich die Lexikographie. Sie systematisiert das Alphabet auf phonologischer Grundlage und legt den Stamm als Lemma für Lexikoneinträge fest. Die Grammatik des Sanskrit umfaßt u.a. eine Ablautlehre und eine Kompositionslehre und nimmt die Konzepte des Morphems und Phonems vorweg, die in Europa erst 2.500 Jahre später gebildet wurden. Sie kulminiert in der Aṣṭādhyāyī des Pāṇini (ca. -410), die in fast 4000 Regeln die Morphologie des Sanskrit zusammenfaßt. Sie ist die älteste bekannte Grammatik der Welt und wird wegen ihrer Systematizität und bündigen Formulierungen bis heute bewundert.

Griechische und lateinische Grammatik

Die alten Griechen prägten den Ausdruck tékhnē grammatikḗ “Kunst des Lesens und Schreibens”, wo aber mit ‘Kunst’ eine Fertigkeit gemeint ist. Seit Mitte des -5. Jh. lehren die Sophisten Grammatik und Rhetorik als Voraussetzung für Erfolg im öffentlichen Leben. Basis ist die Dichtererklärung, wobei besonders grammatische und lexikalische Probleme behandelt werden. Der Philosoph Platon (427-347) verfaßt den Dialog Kratylos, wo er die Frage der Arbitrarietät des Sprachzeichens erörtert und übrigens unentschieden läßt. Auch in Aristoteles' (384-322) Schriften Perì hermeneías und Poetik werden linguistische Begriffe diskutiert. Die Stoiker entwickeln vom -3. Jh. an grammatische Begrifflichkeit auf semiotischer und logischer Grundlage.

Seit etwa -300 entsteht in Alexandria (Nildelta) eine philologische Schule, die sich vor allem die Pflege der Werke Homers angelegen sein läßt. Ganz analog zum altindischen Fall erfordert also auch im Griechentum die philologische Sorge um Werke von nationaler Bedeutung Lexiko- und Grammatikographie. Allerdings ist aus vorchristlicher Zeit nichts erhalten. Der erste bedeutende Grammatiker, von dem einige Werke bekannt sind, ist Apollonios Dyskolos (bald nach 100 n.Ch. in Alexandria geboren). Wichtig sind die erhaltenen vier Kapitel seines Buches Perì syntákseōs, der ersten abendländischen Syntax. Unter dem Namen des Alexandriners Dionysios Thrax (ca. 170/150 - 100/90) wurde im 3. oder 4. Jh. n.Ch. eine tékhnē grammatikḗ herausgebracht, die es zu großem Ruhm gebracht hat. Sie umfaßt eine – wenn auch kurz gefaßte – Phonologie und Morphologie des Griechischen. Sie kodifiziert die traditionellen Begriffe für die Wortarten, morphologischen Kategorien und syntaktischen Funktionen.

Die Römer lassen sich -169 den Griechen Krates von Mallos nach Rom kommen, damit er dort Grammatik lehre. Die gesamte griechische grammatische Begrifflichkeit wird ins Lateinische übersetzt und, soweit eben möglich, unverändert aufs Lateinische angewandt. Der erste aktenkundige lateinische Linguist ist M. Terentius Varro (116 - 27). Von seinem Werk De lingua Latina, das grammatische und etymologische Fragen behandelt, ist nur ein Teil erhalten. Die ersten römischen Linguisten, deren Grammatiken mindestens zum Teil erhalten sind, datieren aus nachchristlicher Zeit. Besonders wichtig wurde Aelius Donatus (4. Jh.). Von seiner Ars grammatica (das ist tékhnē grammatikḗ auf Latein) gibt es eine ausführliche und eine geraffte Version. Vor allem die letztere hat über anderthalb Jahrtausende im schulischen Lateinunterricht gewirkt. Die gesamte traditionelle Schulgrammatik – die Bezeichnungen der Wortarten, Satzglieder, morphologischen Kategorien usw. – geht auf dieses Buch zurück. Eine weit umfassendere lateinische Grammatik sind die Institutiones rerum grammaticarum von Priscianus (6. Jh.); dies ist die überhaupt vollständigste antike Grammatik, die im gesamten Mittelalter als Standardwerk gedient hat.

Tékhnē grammatikḗ / ars grammatica ist, wie gesagt, die Kunst des Lesens und Schreibens. Die ganze antike Grammatik ist erstens präskriptiv, nicht deskriptiv und handelt zweitens von der Schriftsprache, nicht von der gesprochenen Sprache. Buchstaben und Laute werden i.a. nicht unterschieden, die Silbenlehre handelt nicht von den Sprechsilben, sondern von der Worttrennung beim Schreiben. Auch hiervon findet sich der Widerhall noch in unserer heutigen Schulgrammatik, so wenn unter Vokalen die Buchstaben <a>, <e>, <i>, <o>, <u>, <ä>, <ö>, <ü> aufgeführt werden. Die bis heute währende Schriftsprachenlastigkeit und die oft damit einhergehende Empirieferne der Grammatikforschung sind antikes Erbe.

Scholastiker, Modisten

Der gesamte mittelalterliche Grammatikunterricht basierte, wie gesagt, auf “dem Donat”. Bis in die Frühscholastik (Beginn des 12. Jh.) hinein wurden diese Lehren unhinterfragt tradiert. Dann jedoch wurden weitere Werke des Aristoteles ins Lateinische übersetzt (die Kenntnis des Griechischen war nicht sehr verbreitet), und nun nimmt die Logik einen neuen Aufschwung. Aufgabe der Wissenschaft ist es jetzt, die Grammatik logisch zu begründen. Da die Logik für alle Sprachen dieselbe ist, vertritt man eine universalistische Position, wie sie explizit in dem berühmten Satz eines Modisten der ersten Generation formuliert ist:

Diese logische Begründung wird geleistet in zahlreichen Abhandlungen, die sich meist Grammatica speculativa (“Grammatik als Widerspiegelung des Denkens”) oder De modis significandi (“Über die Weisen des Bezeichnens”) nennen. Deshalb wurden diese Richtung Modismus und ihre Anhänger Modisten genannt.

Weisen des Bezeichnens sind, modern ausgedrückt, grammatische Bedeutungen und Funktionen. Es geht darum, die gesamte Grammatik logisch und letzlich ontologisch zu begründen. Die Basis der grammatischen Kategorien, also auch der Wortarten, ist folglich keine strukturale, sondern eine semantische. Die Krönung dieser Bemühungen ist in Thomas von Erfurts Novi modi significandi (zwischen 1300 und 1310) zu sehen. Das Werk hat an mehreren deutschen Universitäten bis in die Neuzeit hinein die Grammatiktheorie abgegeben.

Allgemeine Grammatik

Die Aufklärung etabliert die Vernunft als allgemeinen Wertmaßstab. Die wissenschaftstheoretische Position, wonach Erkenntnis nur durch rationales Denken erlangt wird, nennt sich Rationalismus. Sie etablierte sich vor allem in Frankreich; ihre Hauptfigur war René Descartes (1596-1650). Der Rationalismus bestimmte die französische Sprachwissenschaft im 17. und 18. Jh.; in Deutschland kam er erst um 1800 zum Zuge.

Wissenschaftstheoretisch betrachtet, tritt der Rationalismus das Erbe der Scholastik an. Mit ihr hat er gemeinsam, daß keine empirische Wissenschaft betrieben wird. Kennzeichnend für die Sprachwissenschaft ist die Idee der universalen Grammatik. In der Abtei von Port Royal des Champs, die in Paris eine Dépendance hatte, wird eine bedeutende Schule betrieben. An ihr bringen 1660 der Theologe und Philosoph Antoine Arnauld (1612-1694) und der Pädagoge und Grammatikograph Claude Lancelot (1615-1695) die Grammaire générale et raisonnée de Port Royal heraus. Sie hat außer dem Lateinischen immerhin das Griechische und das Französische zum Gegenstand. Wo die Grammatik einer Sprache von den logischen Grundsätzen abweicht, wird sie kritisiert. Der Kern des Werkes ist, wie bei den Modisten, die Morphologie. Die Syntax ist ein Anhängsel, statt der Phonologie gibt es ein einleitendes Kapitel von den Buchstaben und Schriftzeichen.

Die Gegenposition gegen den Rationalismus formierte sich übrigens schon bald, und zwar in England. Seit 1620 wird dort der Empirismus verfochten, d.i. die Ansicht, daß alles Wissen auf Erfahrung beruht. Der Begründer dieser Richtung ist Francis Bacon (1561-1626), wichtigster Vertreter John Locke (1632-1704) mit seinem Essay concerning human understanding (1690). Diese Richtung hat zwar nicht unmittelbar eine bedeutende Linguistik gezeitigt. Sie gibt aber die wissenschaftstheoretische Athmosphäre ab, in welcher die als nächstes zu behandelnden polyglotten Sammlungen entstehen können. In Deutschland wurde seit Leibniz und besonders der Aufklärung versucht, Empirismus und Rationalismus zu vereinen. Der Gegensatz wurde i.w. durch Kant aufgehoben, besteht aber dennoch bis heute fort.

Missionarsgrammatiken

Seit dem Beginn des Kolonialismus drang die christliche Mission zu immer mehr Völkern vor, die alle in ihrer Sprache zu missionieren waren. Es mußten also Wörterbücher und Grammatiken von bisher unbekannten Sprachen angelegt und dann die Bibel und der Katechismus übersetzt werden. Aus Neuspanien stammen zahlreiche Grammatiken, die die Wendung Arte de la lengua X (“Grammatik der X-Sprache”) im Titel führen, etwa Fray Alonso de Molinas Arte de la lengua mexicana y castellana (1571) oder Juan Coronels Arte en lengua de maya von 1620. Die Autoren sind oft Mönche, deren linguistische Vorbildung in Kenntnissen der lateinischen Grammatik – genauer: Morphologie – besteht. Die Arte von Coronel z.B. ist wie folgt aufgebaut:

Hier muß man lediglich in Rechnung stellen, daß über nominale Morphologie im Yukatekischen in der Tat nicht viel zu sagen ist. Aber daß es einerseits keine Phonologie, andererseits keine Syntax gibt, ist ein typischer traditioneller Defekt dieser Grammatik. Darüber hinaus werden eine Fülle von Kategorien wie das ‘pretérito perfecto’ besprochen, die es zwar im Lateinischen, nicht jedoch im Yukatekischen gibt; und andererseits wird über Kategorien wie etwa die Zahlklassifikatoren, die es im Yukatekischen, aber nicht im Lateinischen gibt, kein Wort verloren.

Diese Grammatiken sind also gleichzeitig unzulänglich und verhältnismäßig leicht zu verstehen. Im letzten Drittel des 20. Jh. werden – nach mehreren Jahrzehnten diverser strukturalistischer Modelle – die ersten Grammatiken erscheinen, die “traditionelle Konzepte” als theoretischen Rahmen für hinreichend halten und die insofern an die Missionarsgrammatiken anschließen.

Polyglotte Sammlungen

Im Zeitalter der Aufklärung begann man, an den Völkern der Erde ethnographisches Interesse zu nehmen und über ihre Sprachen polyglotte Sammlungen anzulegen. Diese enthielten typischerweise Übersetzungen von Grundwortlisten oder des Vater-Unser in eine große Menge exotischer Sprachen, gelegentlich auch summarische Angaben über den Sprachbau. Repräsentative frühe Beispiele sind die folgenden:

Bibliographische Angaben

Adelung, Johann Christoph & Vater, Johann Severin 1806-17, Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde - mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünf hundert Sprachen u. Mundarten. Berlin: Voss (Reprint: Hildesheim: Olms, 1970).

Gesner, Conrad 1555, Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt observationes. Zurich: Froschoverus (Neudruck: Aalen: Scientia, 1974, hrsg. u. eingel. v. Manfred Peters).

Hervas y Panduro, Lorenzo 1800-05, Catalogo de las lenguas de las naciones conocidas, y numeracion, division y clase de estas segun la diversitad de sus idiomas y dialectos. Madrid: [s.ed.].

Pallas, Peter Simon 1786-9, Linguarum totius orbis vocabularia comparativa. Sectio prima, duo volumina. St. Petersburg: J.K. Schnoor (2. ed. 1790/1, ambas sectiones in 4 voluminibus continens. Nachdruck der 1. Aufl. hrsg. von Harald Haarmann, Hamburg: H. Buske, 1977).

Philologien

Wie oben gesagt, gab es bereits im indischen, griechischen und römischen Altertum Philologie. Es war selbstverständlich immer Nationalphilologie; daß auch andere Völker hochwertige kulturelle einschließlich dichterische Leistungen vollbrachten, drang den Menschen der Antike nur unter Ausnahmebedingungen zu Bewußtsein.1 Die mittelalterlichen Universitäten hatten keine Philologien in ihrem Fächerkanon. So sind die Philologien im modernen Sinne, und erst recht die Idee, daß man die Philologie des Schrifttums eines anderen Volkes bzw. einer anderen Kultur als der eigenen machen könne, überwiegend Errungenschaften der Neuzeit.

Eine historische Ausnahmestellung nimmt hier die Klassische Philologie (also Gräzistik und Latinistik) ein, denn sie entstand – nach der mittelalterlichen Pause – bereits im Zeitalter des Humanismus neu, also vom 14. Jh. an. Ihr Hauptgeschäft war von Anfang an die Herstellung zuverlässiger Ausgaben der antiken Texte, die ja bis zur Erfindung des Buchdrucks nur durch wiederholtes Abschreiben überliefert worden waren. Die Methoden der Textkritik gestatten es, durch Vergleich bestehender Versionen den Urtext mit einiger Sicherheit zu rekonstruieren. Da es einerseits eine seit der Antike ungebrochene Tradition der Beherrschung des Lateins gab und da andererseits – im Vergleich zu den anderen indogermanischen Sprachen – das Verständnis der ältesten literarischen Denkmäler des Lateinischen nur unwesentlich von der vergleichenden Linguistik profitiert, war die Linguistik von Anfang an in der Klassischen Philologie nicht besonders stark repräsentiert. Im Gegenteil, als im 19. Jh. die Sprachwissenschaft sich im akademischen Umfeld etablierte, gehörte die Klassische Philologie zu ihren schärfsten Gegnern. Bis auf den heutigen Tag ist es an den Universitäten der Welt die Regel, daß wenn es für eine Philologie mehr als eine Professur gibt, mindestens eine davon der Linguistik der betreffenden Sprachen gewidmet ist, außer eben in der Klassischen Philologie: es gab und gibt Institute für Klassische Philologie mit mehreren Professuren für Latinistik und Gräzistik, wovon keine einzige linguistisch ausgerichtet ist.

Die Philologien der lebenden Sprachen dagegen hatten alle bei ihrer Entstehung eine starke linguistische Komponente, denn immer ging es darum, Texte älterer Sprachstufen durch Sprachvergleich verständlich zu machen. Zudem mußte von den jüngeren Sprachstufen in vielen Fällen erst eine lexiko- und grammatikographische Tradition etabliert werden.

In allen Ländern sind die Philologien, vor allem die der jeweiligen Nation, als akademische Fächer besser etabliert als die (allgemeine) )Sprachwissenschaft. Daher gibt es weltweit mehr Sprachwissenschaftler innerhalb der Philologien als unabhängig von diesen.

Literaturhinweise

Gyarmathi, Sámuel 1799, Affinitas linguae hungaricae cum linguis fennicae originis grammatice demonstrata.

Lehmann, Christian 2002, “Thomas von Erfurt (13./14. Jahrhundert)”. Pfordten, Dietmar von der (ed.), Große Denker Erfurts und der Erfurter Universität. Göttingen: Wallstein; 45-73. [herunterladen ]

Sajnovics, János 1770, Demonstratio idioma Ungarorum et Lapponum idem esse. Kopenhagen: Orphanotropium Regium.


1 Eine dieser Ausnahmen ist die Verehrung, die die Römer der Kultur der Griechen entgegenbrachten.