Einleitung
Das Erkenntnisziel der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft besteht darin, historische und prähistorische Zusammenhänge zwischen Sprachen aufzuweisen.1 Von besonderem Interesse sind genetische (auch “genealogische”) Beziehungen, denn sie gestatten es, die Sprachen in Sprachfamilien zu gliedern. Insofern nimmt die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft einen (zur Sprachtypologie) alternativen Ansatz zu dem Problem, Ordnung in die Vielfalt der Sprachen zu bringen. Sie versucht, die Sprachen der Welt auf möglichst wenige Familien zurückzuführen.
Ein wesentlicher Bestandteil der historisch-vergleichenden Methode ist die Rekonstruktion von Ursprachen. Eine Ursprache (engl. protolanguage) ist eine Sprache, aus der sich andere Sprachen entwickelt haben. Z.B. ist (Vulgär-)Lateinisch die Ursprache der romanischen Sprachen. Die meisten Ursprachen, mit denen Linguisten rechnen, sind rekonstruiert. Sie sind aber zu unterscheiden von der Ursprache der Menschheit, von der im Kapitel über Biolinguistik die Rede ist und die nicht mit der historisch-vergleichenden Methode rekonstruiert werden kann.
Eine Sprachfamilie ist eine Menge von Sprachen, die von einer gemeinsamen Ursprache abstammen, also genetisch verwandt sind. Darin unterscheiden sie sich von den Sprachen, die zum selben Sprachtyp gehören. Diese können zwar auch genetisch verwandt sein; aber das ist nicht das Kriterium ihrer Zugehörigkeit zum selben Typ. Es gibt ungefähr 250 nicht nachweislich miteinander verwandte Sprachfamilien, inkl. isolierte Sprachen, auf der Welt.
Genetische Verwandtschaft wird normalerweise in Form eines Stammbaums dargestellt, wie auch in der menschlichen Genealogie. Der Stammbaum ist das Modell der genetischen Sprachverwandtschaft schlechthin. Allerdings gibt es eine weitere Form der historischen Verwandtschaft, die Lehnverwandtschaft. Sie wird im Kapitel über Areallinguistik behandelt.2
Die indogermanische Sprachfamilie
Eine der erwähnten Sprachfamilien ist die indogermanische.3 Mit ihr befaßt sich seit Beginn des 19. Jh. eine besondere Ausprägung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die Indogermanistik. Folgende Graphik zeigt die Verbreitung der Sprachfamilie über Europa und Asien etwa zum Ausgang der Antike.
Die folgende Tabelle verdeutlicht die Verwandtschaftsverhältnisse. Sie hat logisch, wenn auch nicht graphisch, die Form eines Stammbaums (links die Wurzel, rechts die Blätter).
Besonders in der rechten Spalte sind nur die wichtigsten Sprachen aufgeführt; das Bestehen weiterer ist durch drei Punkte bezeichnet. Es sind auch nicht alle feststellbaren Gruppierungen in der Hierarchie dargestellt.
Entsprechungen und Rekonstruktion
Aus dem Prinzip der Arbitrarietät des Sprachzeichens ergibt sich, daß voneinander unabhängige Sprachen auch voneinander unabhängige Zuordnungen zwischen Significata und Significantia von Sprachzeichen vornehmen. Findet man nun zwischen zwei Sprachen Entsprechungen in dieser Zuordnung, so sind diese, von einem bestimmten Grad der Regelmäßigkeit an, nicht anders erklärlich als eben durch die Annahme, daß diese Sprachen ihre Zuordnungen von Significantia zu Significata doch nicht unabhängig voneinander vorgenommen haben, m.a.W. sie sind unwiderlegliche Evidenz für eine historische Verwandtschaft zwischen ihnen.
Folgende Prinzipien sind unabdingbare Bestandteile der historisch-vergleichenden Methode:
- Evidenz für historische Verwandtschaft können nur arbiträre Eigenschaften von Sprachen sein. Im Kapitel über Sprachtypologie ist dargestellt, daß Struktureigenschaften von Sprachen, z.B. die Wortstellungsmuster oder die Markierung syntaktischer Relationen, nicht arbiträr sind, weil sie universalen (oder typologischen) Gesetzen folgen. Sehr oft lassen diese Gesetze überhaupt nur eine sehr kleine Anzahl struktureller Möglichkeiten zu. Wenn sich zwei Sprachen in solchen Punkten ähneln, kann man sie demselben Sprachtyp zuordnen; Honig für irgendeine historische Beziehung zwischen ihnen kann man daraus nicht saugen. Z.B. haben Quechua und Türkisch eine sehr ähnliche Grammatik, haben aber natürlich historisch nichts miteinander zu tun.
- Wichtig ist ferner der Begriff der regelmäßigen Entsprechung. Eine solche liegt nur dann vor, wenn die phonologischen Ähnlichkeiten zwischen gleichbedeutenden oder semantisch mindestens sehr eng beieinanderliegenden Morphemen sich nicht mal so, mal so äußern, sondern einem Gesetz der Art folgen: immer wo Sprache L1 den Laut
X
hat, hat L2 den LautY
. Z.B. hat Französisch in allen4 Morphemen, wo Italienisch ein /č/ hat, ein /s/, wie in ital. cento = frz. cent “hundert” und Hunderten weiterer Morpheme. Das ist es eben, was nicht auf Zufall beruhen kann, sondern auf die gemeinsame Abstammung von einer Ursprache hinweist. - Oft werden “Wörter” verglichen; Laien beschränken sich in ihren historisch-vergleichenden Ambitionen 100%ig darauf. Die zu vergleichenden Zeichen sind aber Morpheme. Die regelmäßigen Entsprechungen müssen auch die grammatischen Morpheme, z.B. die Flexionsaffixe und die morphologischen Prozesse, umfassen.
Im Lexikon
Die folgende Tabelle führt sieben N-Tupel von Wörtern aus verschiedenen altindogermanischen Sprachen auf derart, daß die Mitglieder eines N-Tupels (fast) dasselbe bedeuten und eine regelmäßige phonologische Entsprechung aufweisen. In den letzten beiden Spalten ist dann das zugehörige Rekonstrukt für das Urindogermanische angegeben. Die sieben Wörter der vorletzten Spalte werden konventionell mit einem vorangestellten Sternchen versehen, welches darauf hinweist, daß sie nicht belegt, sondern rekonstruiert sind.
Nr. | Spr. | Wort | Bedeutung | idg. Wort | Bedeutung |
---|---|---|---|---|---|
a) | ahd. | sehs | sechs | ||
lat. | sex | sechs | |||
gr. | hex | sechs | |||
ai. | śaś- | sechs | sek̑s | sechs | |
b) | ahd. | ahto | acht | ||
lat. | octō | acht | |||
gr. | oktō | acht | |||
ai. | aśtau | acht | ok̑tō(w) | acht | |
c) | ahd. | loh | Kahlschlag | ||
lat. | loucos | Hain | |||
ai. | lōkah | (freier) Raum | louk-o-s | heller Platz | |
d) | got. | fadar | Vater | ||
lat. | pater | Vater | |||
gr. | patḗr | Vater | |||
ai. | pitā (Dat. pitré) | Vater | pətḗr | Vater | |
e) | ahd. | swestar | Schwester | ||
lat. | soror | Schwester | |||
ai. | svasā (Dat. svasré) | Schwester | swesor | Schwester | |
f) | lat. | it | er geht | ||
gr. | eîsi | er geht | |||
ai. | éti | er geht | eî-ti | er geht | |
g) | got. | wait | ich weiß | ||
lat. | vīdī | ich habe gesehen | |||
gr. | oida | ich weiß | |||
ai. | véda | ich weiß | woid-a(i) | ich habe gesehen → weiß |
Zu den an den Beispielen beobachtbaren regelmäßigen Entsprechungen gehören u.a. die folgenden beiden:
- Immer wo Lateinisch und Griechisch ein /o/ haben, haben Althochdeutsch und Gotisch (infolge des im Kapitel über Lautwandel erwähnten Vokalwandels) ein /a/.
- Immer wo Lateinisch einen stimmlosen Okklusiv hat, hat Gotisch (infolge der germanischen Lautverschiebung) einen stimmlosen Frikativ (mit einigen Ausnahmen, die einer Subregularität folgen).
Von den methodischen Grundsätze, die die Rekonstruktion leiten, ist in § 3.3 die Rede.
In der Morphologie
Der Bedingung der gleichen Bedeutung für lexikalische Morpheme entspricht bei grammatischen Morphemen dieselbe Position im selben Paradigma. Es folgen vier Beispiele von Flexionsaffixen, die aus den Beispielen der Tabelle von § 3.1 nebenbei rekonstruierbar sind.
Nr. | Suffix | Funktion | Bsp. idg. Lexikon |
---|---|---|---|
a) | -ti: | 3.Sg.Prs.Ind.Akt. | f) |
b) | -a(i) + Wurzelablaut: | 1.Sg.Perf.Ind.Akt. | g) |
c) | Ø: | Nom.Sg.m. konsonant. Deklination | d, e) |
d) | -s | Nom.Sg.m. o-Deklination | c) |
Auf diese Weise wird die urindogermanische Morphologie rekonstruiert. Mit der Syntax ist es schwieriger aus Gründen, die mit dem Penthouse Principle zu tun haben und hier zu weit führen würden.
In der Phonologie
Da man zur Rekonstruktion der Morpheme Lautgesetze ansetzen muß, rekonstruiert man dabei gleichzeitig das Lautsystem. Findet man zwischen zwei Sprachen eine regelmäßige Entsprechung zwischen X
und Y
wie die in § 3.1 erwähnten, so ist als nächstes die Frage zu klären, ob die Ursprache an den entsprechenden Stellen X
oder Y
oder Z
≠ X
≠ Y
gehabt hat. Die Frage entscheidet sich nach den universalen Gesetzen des Lautwandels (natürlich nicht nach den einzelsprachlichen “Lautgesetzen”; denn die sind, methodisch betrachtet, erst das Resultat dieser Untersuchung). Unter diesen Gesetzen sind z.B. die folgenden beiden:
- Angenommen L1 hat Laut
X
≥ ∅, und dem entsprechen in L2 malY
, malZ
, ohne daß sich dafür Bedingungen feststellen ließen. Dann kann in L2 keine Aufspaltung vonX
vorliegen, denn für eine solche gibt es immer Bedingungen. Folglich kann nur ein Zusammenfall vonY
undZ
in L1 vorliegen. - Angenommen L1 hat in bestimmten Kontexten den Laut
X
, während L2 ebendort ∅ hat. Falls es dafür keine Bedingungen gibt, dann mußX
in L2 geschwunden sein. Andernfalls hängt es von der Natur der Bedingungen ab. Nur unter bestimmten Kontextbedingungen kann ein Laut “eingeschoben” werden; leichter geht er verloren.
Neben solchen allgemeinen Grundsätzen stehen spezifische Gesetze möglicher phonologischer Wandel, die aus dem Vergleich zahlreicher einzelner Wandel induktiv abstrahiert sind. Z.B.:
- Ein /s/ kann zu /h/ werden; aber ein /h/ kann nicht zu /s/ werden.
Dieses Gesetz entscheidet z.B. die Rekonstruktion von #a in der Tabelle von § 3.1 von #d in der Tabelle von § 3.2. Insgesamt gehören alle Laute, die in der vorletzten Spalte der Tabelle “Rekonstruktion des indogermanischen Lexikons” vorkommen, dem urindogermanischen Phonemsystem an. Bemerkenswert sind z.B. folgende zwei Rekonstrukte:
- Wie ein Vergleich von #a, b mit #c in der Tabelle von § 3.1 zeigt, ist neben einem /k/ auch ein palatales /k̑/, phonetisch betrachtet also wohl ein [c], zu rekonstruieren.
- Unter den urindogermanischen Diphthongen sind nach Ausweis von #f und #g derselben Tabelle mindestens /ei/ und /ai/ gewesen.
Die sprachlichen Universalien gelten auch für rekonstruierte Sprachen. Z.B. wurde früher gelegentlich das urindogermanische Konsonantensystem zwar mit stimmhaften, aber ohne stimmlose aspirierte Okklusive rekonstruiert, oder es wurde zwar mit aspirierten Okklusiven, aber ohne /h/ rekonstruiert. Beide Konstellationen verletzen implikative Gesetze. Die letzteren kann man aber nur durch Fakten, nicht durch Rekonstrukte falsifizieren. Daher können die typologischen Gesetze für den Bau von Lautsystemen auch deren Rekonstruktion steuern.
1 Im Prinzip müßte diesem – in Analogie zu den anderen hier besprochenen Varianten der vergleichenden Sprachwissenschaft – das theoretische Ziel an der Seite stehen, eine Theorie des Sprachwandels zu entwickeln. De facto allerdings hat sich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, insbesondere in Gestalt der Indogermanistik, darum kaum gekümmert (was ihr im englischen Sprachraum die Bezeichnung comparative philology eingetragen hat). Und im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Diachronie und Geschichte geht es, mindestens in der Perspektive der Allgemeinen Sprachwissenschaft, auch eher um eine diachrone Theorie des Wandels als um eine Theorie der Sprachgeschichte.
2 Hinter dieser Formulierung verbergen sich riesige methodische Probleme. Sprachen wandeln sich so schnell, daß historische Verwandtschaft schon nach wenigen Tausend Jahren mit den bis jetzt etablierten Methoden nicht mehr nachweisbar ist. Niemand wird annehmen, daß die menschliche Sprache 250 mal unabhängig voneinander auf dem Globus entstanden ist. Viele von diesen Sprachfamilien müssen miteinander verwandt sein. Aber es ist mit den anerkannten Methoden nicht nachweisbar.
3 Indogermanisch ist auf Englisch Indo-European. Das ist allerdings kein Grund, dafür auch auf Deutsch Indoeuropäisch zu sagen.
4 Ausnahmen gibt es freilich immer, einige mit einer eigenen Motivation, andere komplett unerklärlich.