Lexikalische Einheiten und Lexikalisierung

Wie aus dem Überblick über das Sprachsystem ersichtlich, steht in dessen Zentrum das signifikative Subsystem, also die Komponente, die Inhalte mit Ausdrücken (Significata mit Significantia) assoziiert. Eine Teilmenge dieser Assoziationen sind in der Sprachgemeinschaft schon Konvention, gehören also zum Inventar, während die andere Teilmenge erst in der Rede vorgenommen wird. Auf die Zeichen, die zur ersteren Teilmenge gehören, nehmen die Sprecher holistischen (ganzheitlichen) Zugriff, d.h. sie analysieren sie nicht. Das Inventar, in dem sie sie abspeichern und aus dem sie sie abrufen, ist das Lexikon.

Die im Lexikon enthaltenen Einheiten können einfach oder komplex sein. Ein Zeichen, das nicht mehr aus (kleineren) Zeichen besteht, heißt Morph. Die meisten Linguisten sagen an dieser Stelle Morphem. Das ist auch oft unschädlich; der Unterschied zwischen Morph und Morphem wird anderswo behandelt. Wörter, die nur aus einem Morphem bestehen, wie da und Kormoran, sind monomorphematisch. Daneben stehen komplexe Wörter wie Kartoffelernte und verunsichern, die aus mehr als einem Morphem bestehen, und weiter Phraseologismen, darunter idiomatische Ausdrücke wie jemandem auf den Schlips treten und sogar ganze Redensarten wie tja, hättste auf mich gehört .... Sie haben alle gemeinsam, daß Sprecher und Hörer sie nicht analysieren, weil sie sie als Ganzheiten verarbeiten. Freilich könnten sie auf viele komplexe Einheiten die Regeln der Grammatik anwenden, und als sie das erste Mal gebildet wurden, geschah dies zweifellos durch Anwendung der Regeln der Grammatik. Jetzt aber gehören sie zum Inventar, sind lexikalisiert. Auf die monomorphematischen Einheiten allerdings hat der Sprecher keinen analytischen Zugriff. Wenn er eine solche Einheit nicht im Inventar hat, nützt ihm die Kenntnis des restlichen Sprachsystems einschließlich des ganzen Regelapparats nichts; er hat dann an dem betreffenden Punkt eine Lücke.

Daß auf die Einheiten des Lexikons normalerweise keine Regeln angewandt werden, bedeutet meistens auch, daß keine Regeln auf sie anwendbar sind. Etwas, das keiner Regel folgt, nennt man auch idiosynkratisch. So ist das Lexikon der Ort der Idiosynkrasie im Sprachsystem, d.h. der Bereich, der noch am wenigsten systematisch ist. Ein Teil des Lexikons ist das Morphemikon. Das ist das Inventar der unanalysierbaren Zeichen, also solcher Zeichen wie Kormoran, Vogel, Spatz, werf-, -chen, -st. (Von diesen gibt es in einer Sprache an die 10.000.)

Aber das Lexikon ist nicht einfach ein Haufen von Zeichen. Es ist von vielfältigen paradigmatischen Relationen durchzogen. Zu jedem Sprachsystem gehören auch Regeln, nach denen man neue Wörter bilden kann. Die Wortbildung ist der Teil der Morphologie, der ins Lexikon hineinragt. Die jeweils frisch gebildeten Wörter, die Neologismen, folgen bekannten, produktiven Regeln, sind also gar nicht idiosynkratisch. Wenn sie sich freilich im Wortschatz festsetzen, werden sie als Ganzheiten behandelt. Dann wird es irrelevant, nach welchen Regeln sie gebildet worden waren. Sie können länger im Sprachsystem bleiben als die Regeln, nach denen sie ehemals gebildet wurden. Z.B. sind die Wörter der rechten Spalte der folgenden Tabelle schon vor althochdeutscher Zeit gebildet worden.

t-Abstrakta
BasisAbstraktum
ankommenAnkunft
gönnenGunst
könnenKunst
schreibenSchrift
sehenSicht
treibenTrift
vernehmenVernunft

Daß sie in der Tat abgeleitet (und nicht elementar) sind, erkennt man heute kaum noch. Man erkennt (als Linguist, vermutlich nicht als unverbildeter Sprecher) ein t-Suffix und stellt fest, daß sie alle Feminina sind. Man kann also schließen, daß sie von den verbalen Basen der linken Tabellenspalte mittels dieses Suffixes abgeleitet wurden. Aber die Beziehung der Significantia, z.B. /gœn/ vs. /gʊns/, folgt keiner heute gültigen Regel. Ebenso hoffnungslos ist der Versuch, eine regelmäßige semantische Beziehung zwischen den Basen und den Ableitungen dingfest zu machen. Zu der Zeit, da die Abstrakta gebildet wurden, war ihre Beziehung zu den Basen sowohl strukturell als auch semantisch regelmäßig. Dann jedoch wurde im Laufe des grammatischen Wandels die Ableitungsoperation unüblich, während einige ihrer Produkte im Lexikon verblieben. Sie unterlagen phonologischem und semantischem Wandel, der die ehemals regelmäßige Beziehung zwischen den beiden Significantia und den beiden Significata zerstörte. Diese Abstrakta wurden also vollständig lexikalisiert. Das Beispiel zeigt, wie es kommt, daß das Lexikon sowohl Wörter enthält, die nach bestehenden Regeln gebildet sind (und die insofern eigentlich gar nicht “im Lexikon zu stehen” brauchten), als auch Wörter, die entweder überhaupt nicht morphologisch komplex sind oder die zwar komplex, aber nicht nach Regeln analysierbar sind.

Lexikon und Wörterbuch

Das Lexikon im linguistischen Sinne ist, wie gesagt, ein Teil des Sprachsystems. Damit ist also nicht ein gedrucktes Wörterbuch gemeint, sondern der Wortschatz, über den die Mitglieder der Sprachgemeinschaft gemeinsam verfügen. Welchen ontologischen Status ein solches “soziales Faktum” (Saussure 1916) hat, braucht hier nicht geklärt zu werden. Eine individuelle Konkretisierung davon ist das mentale Lexikon, d.i. der Wortschatz, den ein Sprecher im Langzeitgedächtnis hat. Eine andere Konkretisierung davon ist das Wörterbuch. Ein Wörterbuch ist gleichsam eine partielle und nach bestimmten Prinzipien angeordnete Repräsentation des Lexikons einer Sprache.

Die Lexikologie ist die Disziplin der deskriptiven Linguistik, die das Lexikon zum Gegenstand hat und dessen Inhalt und Struktur zu modellieren versucht. Die Lexikographie ist die Disziplin der angewandten Linguistik, welche sich mit der Herstellung von Wörterbüchern befaßt.