Überblick

Während wir in Sprachtätigkeit (‘parole’) involviert sind, laufen in unserem Geist bestimmte Vorgänge ab. Die Informationen, die wir dazu einsetzen (‘langue’), sind dauerhaft im Gedächtnis gespeichert und in bestimmter Form repräsentiert. Diese Informationen erwerben wir, wenn wir unsere Muttersprache oder eine Fremdsprache erlernen. Psycholinguistik ist die Disziplin, die sich diesen Gegenständen widmet. Sie wendet zu ihrer Erforschung psychologische Methoden an. Daneben steht die Systemlinguistik mit ihren Begriffen, die i.w. auf strukturaler Analyse beruhen. Die Psycholinguistik setzt deren Begriffe z.T. voraus und fragt insoweit, wie die Einheiten und Operationen des Sprachsystems mental repräsentiert sind. Z.T. konfrontiert die Psycholinguistik ihre Ergebnisse mit denen der Systemlinguistik und trägt dazu bei, die letzteren zu verbessern.

Disziplin

Psycholinguistik besteht erst seit den fünfziger Jahren des 20. Jh. Zuvor gab es (seit dem 19. Jh.) bereits Sprachpsychologie. Der Unterschied zwischen Psycholinguistik und Sprachpsychologie ergibt sich aus der Struktur des Determinativkompositums: Psycholinguistik ist eine Disziplin der Linguistik, Sprachpsychologie ist eine Disziplin der Psychologie. Die disziplinären Grenzen werden allerdings aufgeweicht, und der Unterschied wird irrelevant.

Die Systemlinguistik machte, in Gestalt der strukturalen Sprachwissenschaft, bis zur Mitte des 20. Jh. einen großen Teil der Linguistik und, wenn man die historische Sprachwissenschaft dazuzählt, fast die gesamte Linguistik aus. Der Strukturalismus führte allerdings zu einer Isolation der Sprachwissenschaft, insofern andere Wissenschaftler mit den linguistischen Konstrukten nicht viel anfangen konnten. Die Kluft zwischen der strukturalen Linguistik und dem Rest der Welt erreichte ihre maximale Breite um 1970. Damals erhob die generative Grammatik den Anspruch, Aussagen über die Sprachkompetenz als Gegenstand der kognitiven Psychologie zu machen. Aber da es sich um die Kompetenz eines “idealen” Sprecher-Hörers handelte, war sie in Wahrheit wissenschaftlichen Methoden nicht zugänglich. Dieses wurde offenbar, als Ende der sechziger Jahre des 20. Jh. Sprachpsychologen und Psycholinguisten versuchten, die Konstrukte der generativen Grammatik mit psychologischen Methoden nachzuweisen, und sich damit frustrierten. In der Reaktion darauf hat sich die Psycholinguistik von der Systemlinguistik emanzipiert, was eben auch zu der erwähnten Annäherung an die Sprachpsychologie führte.

Seitdem wird die Frage nach dem ontologischen Status linguistischer Kategorien wieder ernst genommen. Einige vertreten die Auffassung, daß es lediglich methodische Hilfsmittel des ordnenden und systematisierenden Wissenschaftlers sind, die kein Gegenstück im Gegenstandsbereich haben. Diese Auffassung führt aber in den Elfenbeinturm und folglich zur Irrelevanz einer solchen Wissenschaft. Wenn Sprache etwas ist, was eine von der Wissenschaft unabhängige Existenz in der Welt führt, dann ist es Aufgabe der Wissenschaft, ihre Eigenschaften – also insbesondere die sprachlichen Kategorien – herauszubekommen und in wissenschaftlichen Theorien zu modellieren. Ein naheliegender Ansatz dazu ist es, die Sprache im Gehirn zu lokalisieren und also mit psychologischen Methoden zu untersuchen.

Damit ist natürlich nicht gesagt, daß dies der einzig wahre Ansatz ist. Zunächst ist festzustellen, daß für Repräsentationen und Vorgänge im Gehirn neben der Psychologie auch die Neurologie zuständig ist. Tatsächlich konvergieren seit Ende des 20. Jh. Psycho- und Neurolinguistik. Die Sprache führt aber auch eine soziale Existenz in der Sprachgemeinschaft und kann insoweit mit soziologischen Methoden untersucht werden. Wichtig ist in jedem Falle, daß der ontologische Status der Sprache so konzipiert wird, daß die Konstrukte linguistischer Theorien auf Beobachtbares bezogen werden können.

Die Sprachpsychologie will aus der Beschaffenheit der Sprache Schlüsse auf die Natur und das Funktionieren des menschlichen Geistes ziehen. Die Methoden, die sie dazu anwendet, laufen auf die kontrollierte Beobachtung menschlichen Verhaltens hinaus. Solche Methoden sind von denen der Systemlinguistik unabhängig. Daher können die Ergebnisse der beiden Disziplinen einander bestätigen oder widersprechen. Im Sinne einer Wissenschaftstheorie, die nicht die Verifikation, sondern nur die Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen kennt, ist nur der letztere Fall ein Gewinn. Dies ist freilich ein theoretischer Standpunkt. Die konkrete wissenschaftliche Arbeit, und erst recht die Praxis, müssen auch einmal etwas voraussetzen, auch wenn es nicht wahr sein muß. Dafür spielt es selbstverständlich eine positive Rolle, wenn bestimmte Konzeptionen durch unabhängige Methoden bestätigt sind.

Forschungsgebiete

Wir werfen hier einen kurzen Vorausblick auf die wichtigsten Forschungsgebiete der Psycholinguistik; Einzelheiten folgen in den entsprechenden Kapiteln.

Die genannten dürften die Hauptarbeitsgebiete der Psycholinguistik sein. Daneben kümmert sie sich auch um Gegenstände wie die nicht-sprachliche und para-sprachliche Kommunikation, weniger weil dies genuin psycholinguistische Gegenstände wären als deswegen, weil sie von der Systemlinguistik typischerweise vernachlässigt werden.

Literatur

Aitchison 1982, Garman 1990, Hörmann 1981, Steinberg 1993.