Der Ausdruck mentales Sprachsystem ist also solcher nicht geläufig; geläufig sind mentales Lexikon und mentale Grammatik. Mentales Sprachsystem wird hier in dem Sinne benutzt, wie der Begriff ‘Sprachsystem’ eingeführt ist: es umfaßt die signifikativen und distinktiven Subsysteme. Es geht dabei um die Repräsentation der Sprache im Gehirn.

Der Ausdruck mentales Sprachsystem scheint zu präjudizieren, daß es sich jedenfalls um das Sprachsystem im systemlinguistischen Sinne handelt, das in einer bestimmten Nische des Hirns oder Geistes des Sprecher-Hörers lokalisiert ist. Das ist keinesfalls so, aus mehr als einem Grunde:

  1. Die gesamte im zentralen Nervensystem enthaltene Information ist großenteils nach der Art eines Hologramms abgespeichert. D.h. es ist nicht jede einzelne Information an einem bestimmten Ort abgelegt, sondern sie existiert in Form von Mustern von Synapsen und durchfließenden elektrochemischen Strömen, die über große Teile des Hirns verteilt sein können. Zudem waltet im Hirn auch kein Ökonomieprinzip: da es mehr als genug Nervenzellen gibt, ist die Information hochgradig redundant abgelegt. Eine Folge davon ist, daß (ebenso wie bei einem Hologramm) eine lokale Schädigung des Hirns nicht notwendigerweise zum Totalausfall einer bestimmten Funktion, sondern häufig nur zu deren Schwächung führt.
  2. Die Plastizität des Gehirns gilt auch für die Ontogenese seiner Fähigkeiten. M.a.W., z.T. gibt die Morphologie des Gehirns die möglichen Funktionen seiner Teile vor, aber z.T. bleibt es auch dem Individuum überlassen, an welcher Stelle es bestimmte Fähigkeiten und Inhalte abspeichert.
  3. Das Sprachsystem ist, wie gesagt, in sich relativ heterogen. Bereits die signifikativen und distinktiven Subsysteme involvieren sehr unterschiedliche mentale Fähigkeiten. Dasselbe gilt für die beiden signifikativen Subsysteme: wie anderswo dargestellt, sind die Inhalte des Lexikons im ganzheitlichen Zugriff zugänglich, während die grammatischen Konstruktionen im analytischen Zugriff zugänglich sind. Entsprechendes gilt innerhalb der Phonologie für die Prosodie vs. das Phonemsystem. Die beiden Zugriffe sind aber, im Sinne der Lateralisation, tendentiell auf die beiden Hirnhälften verteilt.
  4. Das Sprachsystem ist kein in sich abgeschlossenes “Modul”, dessen Grenzen wohldefiniert wären. Zwar kann ein prinzipieller Unterschied zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Wissen gemacht werden. Soweit damit Wissen um Bedeutungen gemeint ist, entspricht ihm die Unterscheidung zwischen lexikalischem und enzyklopädischem Wissen. Die prinzipielle Möglichkeit einer Unterscheidung bedeutet aber bekanntlich nicht, daß es keine unentscheidbaren Grenzfälle gäbe. Daß z.B. ein Gnu ein Tier ist, dürfte sowohl lexikalische als auch enzyklopädische Information sein; alles weitere, was einer über Gnus weiß, dürfte ausschließlich enzyklopädische Information sein.1

Das Gesagte widerspricht nicht der Darstellung der Sprachzentren auf der Seite über Lateralisation. Aber wie dort erläutert, sind sie gleichsam nur die linkshemisphärischen, i.e. analytischen, Ausprägungen allgemeinerer sensorischer und motorischer Fähigkeiten.


1 Der Satz ich habe das Gnu umgerührt dürfte ungrammatisch sein; aber der Satz das Gnu flog davon ist jedenfalls grammatisch und bezeichnet nur einen extrem unwahrscheinlichen Sachverhalt.