Traditionelle Typologie, Humboldtianismus

Anfang des 19. Jh. entstand, gleichzeitig mit der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die allgemeine Sprachwissenschaft auf empirischer Grundlage, nachdem sie bis dahin ausschließlich auf aprioristischer Grundlage betrieben worden war. Allerdings war sie auch dann noch nicht so empirisch, daß man wirkliches Sprachverhalten beobachtet und beschrieben hätte. Die Grammatiken hatten die Schriftsprache zum Gegenstand (und das gilt für 99% aller Grammatiken bis auf den heutigen Tag) und waren normativ. Am Beginn der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin stand daher nicht deskriptive Linguistik im heutigen Sinne, sondern vergleichende Sprachwissenschaft. Insofern entstanden allgemeine und historische Sprachwissenschaft gleichzeitig auf analoge Weise.

Der Motor der allgemein-vergleichenden Sprachwissenschaft war eine andere romantische Idee, nämlich das Postulat eines Zusammenhangs von Sprache und Volksgeist. Diese beflügelte die Gebrüder Schlegel und besonders Wilhelm von Humboldt. Während die Schlegels die Sprachtypologie eher postulierten als betrieben, befaßte Humboldt sich mit sehr vielen Sprachen rund um den Globus, exzerpierte Grammatiken, induzierte daraus eine allgemein-vergleichende Grammatik und bemühte sich gleichzeitig um die Formulierung einer Sprachtheorie als deduktiver Basis.

Humboldt ist bis heute kaum erreicht in der Kombination von Sprachphilosophie und vergleichender Sprachforschung. Er hat der Linguistik die bleibende Aufgabe gestellt, die Einheit in der Vielfalt zu suchen.

Wegen der von den Schlegels, von Humboldt und ihren Nachfolgern durch das gesamte 19. Jh. betriebenen subjektiven Bewertung von Sprachen geriet die Sprachtypologie Anfang des 20. Jh., als die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen sich geändert hatten, gründlich in Mißkredit und war für einige Jahrzehnte i.w. tot. Als wesentliche Ausnahme eines Linguisten, der die traditionelle Typologie weiterführte, ist aus der Mitte des 20. Jh. nur Vladimir Skalička (Prag) zu nennen. Erst mit den unten zu besprechenden Arbeiten von Joseph Greenberg nahm die Sprachtypologie einen Neuanfang.

Literaturhinweise

Humboldt, Wilhelm von 1836, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes (= Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java. Einleitung). Berlin: Königlich-Preussische Akademie der Wissenschaften; in Kommission: Bonn etc.: F. Dümmler.

Skalička, Vladimir 1966, "Ein «typologisches Konstrukt»." Travaux linguistiques de Prague 2:157-163.

Strukturalismus

Die erwähnten Erfolge der Naturwissenschaften führen dazu, daß sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Wissenschaftstheorie formiert, für die das naturwissenschaftliche Vorgehen das Modell der Wissenschaftlichkeit schlechthin abgibt. Das zu dieser Zeit herrschende Wissenschaftsideal nennt sich Positivismus. Dieser tritt das Erbe des Empirismus an mit dem Postulat, daß nur das unmittelbar Wahrgenommene - Tatsachen oder Sinneswahrnehmungen - sichere Grundlage der Erkenntnis ist. Wissenschaft tut nichts als beobachtete Erscheinungen gesetzlich zu verknüpfen. Es herrscht das naturwissenschaftliche Objektivitäts- und Exaktheitsideal. Somit sind in den Geisteswissenschaften Sinn- und Wertfragen abzulehnen. In der Psychologie führt dies zur Entstehung des Behaviorismus (~1910-1960), der die Erforschung der Seele / des Geistes durch die Erforschung des menschlichen Verhaltens ersetzt.

Der Genfer Professor für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure, hielt in den Jahren 1907 bis 1911 eine Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft, die nach seinem Tode von seinen Assistenten unter dem Titel Cours de linguistique générale publiziert wurde. Darin formuliert er einige linguistische Prinzipien in bis dahin nicht dagewesener Klarheit:

Diese Grundsätze wurden von anderen hervorragenden Linguisten ziemlich bald relativiert, aber sie liegen nichtsdestoweniger für ein halbes Jahrhundert nahezu jeglicher allgemeiner Sprachwissenschaft zugrunde. Mit ihnen begründet de Saussure den Strukturalismus als eine Strömung nicht nur der Linguistik, sondern der Geisteswissenschaften überhaupt. Er ist durch folgende Positionen gekennzeichnet:

Mehrere dieser Grundsätze stehen in explizitem Gegensatz zu historischer (Sprach-)Wissenschaft oder sind jedenfalls damit nicht vereinbar.

Im mittleren Drittel des 20. Jh. entwickeln sich einige Strömungen und Schulen der strukturalen Linguistik:

Der Strukturalismus hat einige bleibende Einsichten zur Wissenschaftsgeschichte beigetragen, von denen zwei hier hervorgehoben seien:

Andererseits ist der Strukturalismus – oder mindestens seine extremen Ausprägungen – aber auch in mehrerer Hinsicht einseitig:

Literatur

Bloomfield, Leonard 1933, Language. New York etc.: Holt, Rinehart & Winston.

Sapir, Edward 1921, Language. An introduction to the study of speech. New York: Harcourt, Brace & World.

Saussure, Ferdinand de 1916, Cours de linguistique generale - publie par Charles Bally et Albert Sechehaye avec la collaboration de Albert Riedlinger. Paris: Payot.

Generative Grammatik

Der Harris-Schüler Noam Chomsky publiziert 1957 Teile seiner Dissertation unter dem Titel Syntactic structures und macht damit einen Beschreibungsansatz bekannt, der syntaktische Paradigmen durch Transformationen beschreibt, also durch formale Operationen, die eine Satzstruktur in eine andere überführen. Erheblich mehr Einfluß hatte dann sein Buch Aspects of the theory of syntax. Hier weist er der Linguistik die Aufgabe zu, die Sprachkompetenz eines idealen Sprecher-Hörers zu modellieren. Er entwirft dazu das Modell der generativen Grammatik, also einer Grammatik, die (virtuell) die Sätze einer Sprache aufzählt und ihnen gleichzeitig eine Strukturbeschreibung zuordnet. Im Zentrum des Modells steht die Syntax (Morphologie wird stiefmütterlich behandelt); Phonologie und Semantik sind daran angeschlossen. Basis der Sprachkompetenz ist der ‘language acquisition device’, welcher eine universale Grammatik inkorporiert.

Das Modell war – nach Harris' Vorarbeiten – das erste weitgehend formalisierte linguistische Modell. Es gewann sofort zahlreiche Anhänger. Chomskys eigene Interessen betrafen allerdings nicht die Beschreibung von Sprachen; er wollte eine Theorie der Grammatik auf algebraischer Grundlage. Er setzte sich vehement gegen den amerikanischen Strukturalismus ab, dem er die Beschränkung auf Methodik und entsprechende Theorieferne vorwarf. Während letzterer Vorwurf zu einem gewissen Grade zutraf, schüttete Chomsky das Kind mit dem Bade aus, indem er jegliche Methodik aus seiner Linguistik verbannte. In bezug auf die im vorigen Abschnitt aufgeführten Defizienzen des Strukturalismus bedeutet die generative Grammatik in Wahrheit keinen Fortschritt; sie wird daher heute von den meisten Linguisten der Strömung des Strukturalismus zugerechnet. Chomskys Weiterentwicklung der Theorie wurde nur noch von wenigen verfolgt.

Literatur

Chomsky, Noam 1957, Syntactic structures. 's-Gravenhage: Mouton & Co (Janua Linguarum Series Minor, 4)

Chomsky, Noam 1965, Aspects of the theory of syntax. Cambridge, MA: MIT Press (Special Technical Report, 11).

Universalienforschung und Typologie

Die Sprachtypologie war, mit wenigen Ausnahmen, um die Mitte des 20. Jh. zum Erliegen gekommen. Tatsächlich ist ihr Anliegen, mehreren oder gar allen Sprachen gemeinsame Züge zu identifizieren, nicht leicht verträglich mit dem strukturalistischen Postulat, daß jede Sprache ein System für sich ist und man keine Kategorien über Sprachen hinweg identifizieren kann. Diesen totalen Relativismus gewisser strukturalistischer Richtungen überwandt vor allem Roman Jakobson, der Prag unter dem Nationalsozialismus verließ und ab 1942 in den U.S.A. lehrte.

1961 veranstaltete der Stanforder Linguist Joseph Greenberg eine Konferenz über sprachliche Universalien in Dobbs Ferry, die nachmals legendär wurde. Jakobson steuerte dazu vor allem sein Konzept der implikativen Generalisierungen bei. Dieses hinwiederum spielt eine fundamentale Rolle in Greenbergs eigenem Beitrag zur Konferenz, mit dem er die sprachliche Universalienforschung im modernen Sinne begründet. Dies ist eine empirische Disziplin, die den Vergleich vieler Sprachen voraussetzt, Generalisierungen zunächst auf induktivem Wege erreicht und diese theoretisch nutzt, um sprachliche Universalien und Typen festzustellen.

Dieser Richtung schlossen sich viele Linguisten an. Neben dem Stanforder Universalienprojekt gab es zwischen 1970 und 1990 ähnliche Projekte in Köln unter Hansjakob Seiler, in Paris unter Gilbert Lazard und in Leningrad/St. Petersburg unter Viktor Khrakovsky und Vladimir Nedjalkov. Die theoretische Basis wurzelt in Roman Jakobsons funktionalem Strukturalismus, wurde aber etwa seit 1980 zu einer Theorie funktionaler Domänen der Sprache ausgebaut, die auf die obersten Ziele der Kognition und Kommunikation hingeordnet sind. Im selben theoretischen Umfeld sind auch die gleichzeitig erstarkten Forschungen zur Grammatikalisierung sowie die an die evolutive Typologie des 19. Jh. anschließenden Forschungen zu einer allgemeinen diachronen Linguistik angesiedelt, aber auch Forschungen, die Sprachen in Feldforschung dokumentieren und beschreiben und die selber gar keine theoretischen Ziele verfolgen.

Funktionaler Strukturalismus

Auf diese Weise entwickelte sich eine Richtung des Funktionalismus, der in scharfem Gegensatz zum Formalismus generativistischer Prägung steht. Wie auch sonst gewöhnlich, sind beide Extrempositionen unfruchtbar:

Seit Ende des 20. Jh. steht also auf den wissenschaftstheoretischen Agenda der allgemeinen Sprachwissenschaft zuoberst die Konsolidierung des funktionalen Strukturalismus.

Literatur

Arens 1969, Robins 1973, Sebeok (ed.) 1966.

Greenberg, Joseph H. 1963, "Some universals of grammar with particular reference to the order of meaningful elements." Greenberg, Joseph H. (ed.), Universals of language. Report of a conference held at Dobbs Ferry, New York, April 13-15, 1961. Cambridge, MA: MIT Press; 58-90.