Objektivität in der Wissenschaft
Ziel der Wissenschaft ist die Gewinnung objektiver Erkenntnis. Die gewonnen Erkenntnisse werden in Beschreibungen und Theorien formuliert. Diese sind objektiv,
- indem sie der Sache angemessen sind
- indem sie intersubjektiv sind.
Ob die Erkenntnisse der Sache angemessen sind, ist wieder eine Frage intersubjektiver Übereinkunft. Daher reduziert sich die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis auf ihre Intersubjektivität. Intersubjektiv sind Erkenntnisse, wenn jeder, der gewisse Regeln akzeptiert, sie nachvollziehen kann, ohne von seiner menschlichen Verständnisfähigkeit, seiner Intuition, (gutwillig) etwas dazuzutun. Solche Regeln sind i.a. Regeln der Logik. Um sicherzustellen, daß es nicht notwendig ist, die Intuition des Wissenschaftlers zum Verständnis anzuwenden, müssen die Erkenntnise explizit gemacht werden. D.h.
- Es werden nur Ausdrücke mit festgelegter Bedeutung verwendet; mehrdeutige oder metaphorische Ausdrücke sind nicht zugelassen.
- Alles, was angenommen wird, muß ausdrücklich behauptet werden.
Nur dann werden Widersprüche offenbar.
Die natürliche Sprache ist in mancher Beziehung unpräzise und mehrdeutig und daher für die Zwecke wissenschaftlicher Darstellung nicht ohne weiteres geeignet. Ein Ausweg, der formale Präzision verspricht, ist die Einführung formaler Sprachen und Modelle. Die Bemühung darum nennt sich Mathematisierung der Wissenschaften.
Formalisierung in der Linguistik
Empirische Wissenschaften wie die Linguistik haben die drei Dimensionen der Theorie, der Methodologie und der Praxis. Auf allen drei Dimensionen spielt Formalisierung eine Rolle:
- Der theoretische Zweck der Formalisierung ist die völlig explizite Darstellung und Erklärung aller sprachlichen Phänomene. Das Ergebnis ist eine formale Theorie der Sprache (einschließlich der Grammatik).
- Der methodologische Zweck der Formalisierung ist – wie in jeder anderen Wissenschaft auch – die Überprüfung der inneren Konsistenz von Theorien.
- Der praktisches Zweck der Formalisierung ist die Automatisierung gewisser Verfahren, die mit der Verarbeitung natürlicher Sprache zu tun haben.
In der Linguistik gibt es bei der Formalisierung eine besondere Komplikation gegenüber anderen Wissenschaften: Der formale Apparat, mithilfe dessen modelliert wird, ist sprachartig, denn es handelt sich jedenfalls um einen Code, mit dem Beschreibungen und Erklärungen formuliert werden. Im Falle der Linguistik freilich ist nicht nur das Instrument der Modellbildung, sondern auch der zu modellierende Gegenstand selbst eine Sprache. In Disziplinen (wie Linguistik, Literaturwissenschaft, Logik), die von Sprachlichem handeln, ist deshalb eine Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache zu machen.
Da Objektivität und Explizitheit angestrebt wird, ist die formale Sprache jedenfalls präzise und eindeutig. Man verwendet zur Beschreibung und theoretischen Modellierung gerade deswegen keine natürlichen Sprachen, weil diese nicht präzise und eindeutig sind. Das heißt aber, daß die Eigenschaften natürlicher Sprachen nicht restlos durch Formalisierung eingefangen werden können. Das Geschäft der Formalisierung birgt immer die Gefahr, die (anzustrebende und oft tatsächlich vorhandene) Präzision der Metasprache mit der (nicht vorhandenen und nicht anzustrebenden) Präzision der Objektsprache zu verwechseln.
Insoweit Linguistik eine logische Wissenschaft ist, weist sie wesentliche Bezüge zur Logik und Mathematik auf. Daher hat es in der Wissenschaftsgeschichte auch immer wieder gegenseitige Befruchtung unter diesen drei Disziplinen gegeben. In der Logik entwickelte Kalküle sind immer wieder in der Semantik, in der Mathematik entwickelte Kalküle wiederholt in der Syntax eingesetzt worden. Und umgekehrt haben linguistische Konzeptionen vom Aufbau von Grammatik und Semantik auch immer wieder die Logik und Mathematik inspiriert.
Literatur
Heringer 1972, Marcus 1967, Wall 1972.