Einleitung

In der Darstellung der Funktionen der Sprache ist zu sehen, daß die Sprachtätigkeit im Schnittpunkt zweier fundamentaler Dimensionen steht, nämlich der kognitiven und der sozialen. Da die Ziele der Sprachtätigkeit außerhalb ihrer selbst liegen, weisen beide Dimensionen über die Sprache hinaus. Deshalb beschäftigen sich mit ihnen zwei interdisziplinäre Forschungsrichtungen:

Übrigens gibt es, analog dem Fall der Psycholinguistik, auch eine der Soziolinguistik korrespondierende Subdisziplin der Soziologie, eben die Sprachsoziologie. Und auch der Unterschied zwischen Soziolinguistik und Sprachsoziologie besteht eher in ihrer disziplinären Zuordnung als in ihren Erkenntniszielen und Methoden.

Die Soziolinguistik hat sich erst relativ spät in der Wissenschaftsgeschichte etabliert; erste Forschungen stammen aus den 1960er Jahren. Sie verdankt ihren Aufstieg der merkwürdigen Konstellation Anfang der 1970er Jahre, wo die Linguistik einen Boom erlebte, und zwar z.T. durchaus infolge des 1965 begonnenen Siegeszuges der generativen Grammatik, der zu vielen neuen Instituten und Professuren führte, wo aber andererseits innerhalb des Fachs die Opposition gegen die generative Grammatik und ihren Alleinseligmachungsanspruch sich formierte. Es ging vor allem um zwei von ihr vorgenommene Idealisierungen:

Die Realität ist natürlich:

Die beiden Idealisierungen wurden von vielen nicht akzeptiert, die die Variation als eine wesentliche Eigenschaft jeder menschlichen Sprache ansahen. Als Reaktion auf diese Situation bildete sich in den 1970er Jahren die Variationslinguistik, die besonders auf die sprachliche Variation auf jeglicher Dimension achtet.

Grundlagen der Soziolinguistik

Aus dem Begriff der Sprache folgt die wesentliche Voraussetzung der Soziolinguistik: Sprechen ist eine Form sozialen Handelns (und Verhaltens). Ihr Gegenstand sind folglich die sozialen Bedingungen der Sprachtätigkeit und ihrer Variationen. Es wird die wechselseitige Abhängigkeit von Sprach- und Sozialstruktur untersucht. Die Fragestellung der Soziolinguistik ist einmal in folgendem Satz zusammengefaßt worden:

Wer spricht was und wie mit wem in welcher Sprache und unter welchen sozialen Umständen mit welchen Absichten und Konsequenzen? (Fishman 1972:15)

Die insgesamt eine Varietät einer Sprache determinierenden Faktoren lassen sich in folgender Übersicht zusammenfassen:

Parameters of speech situation and text genres (cf. Lehmann 2001, sect. 5.2)
parametervaluesexamples
1.Speech act participants (speaker, hearer, bystander)
Presencenone vs. one vs. manymonolog, dialog, palaver, chorus ...
Naturesupernatural vs. human being vs. animalprayer, animal talk ...
Social groupsex, age, social status, profession, ethnic affiliation ...
Roles/distancesymmetric vs. asymmetricfriends; mother – daughter, chief – citizen ...
intimate vs. strangerkin – same social group – outsider
2.Context of speech act (situation)
Placechurch, mill, pub ...
Timedaytime vs. night ...
Formalitydistance vs. proximityfriendly encounter, work, ritual ...
Real-life embeddingreal vs. fictionalgame, drama ...
3.Task
Illocutionnarrativemyth, proverb, joke, riddle ...
descriptiveencyclopedic treatise of anything ...
instructive/directiveworking routine, game instruction ...
discursivepolitical/forensic speech, sermon, blessing, curse ...
interrogativeexamination, interrogation ...
poeticpoem, song ...
Topictraditional/modern; past/futurework/leisure, family/village/society, mythical figures/persons/animals/plants ...
Spontaneityritualizedbaptism, courtship ...
conventionalgreeting and leave, route directions, official address ...
creativeevent report, poem ...
spontaneousexclamation, dispute ...
4.Channel
Mediumoral vs. written
Directnessface-to-face vs. technical transmissiontelephone, letter ...

Adapted from: Lehmann, Christian 2001, "Language documentation: a program". Bisang, Walter (ed.), Aspects of typology and universals. Berlin: Akademie Verlag (Studia Typologica, 1); 83-97.

Ein paar Beispiele mögen diese Parameter erläutern:

Als vorläufiges Fazit kann man festhalten: Der Sprecher wählt aus seinem Repertoire die den bestimmenden Faktoren gemäße Varietät aus. Die soziale Interaktion erfordert den Wechsel zur jeweils angepaßten Varietät. Diese kann auf allen Ebenen zwischen Stil, Register, Dialekt und Sprache liegen. D.h. die Faktoren, die im Deutschen die Wahl des Stils steuern, sind nicht wesentlich verschieden von den Faktoren, die in Paraguay die Wahl zwischen Spanisch und Guarani (Corder 1973:62) steuern.

Diese Art sprachlicher Variation zu beherrschen ist Teil der Sprachkompetenz (der manchmal als kommunikative Kompetenz bezeichnet wird). Bei Inkompetenz resultieren Ausrutscher, Vergreifen im Stil, aber auch Hyperkorrektion (d.i. Fehler aus dem Bemühen, es richtig zu machen).

Schichtenspezifisches Sprachverhalten

Bekannt wurden frühe Arbeiten auf einem spezifischen Anwendungsfeld, nämlich dem der Sozialpädagogik. Basil Bernsteins (1971) Thesen zum schichtenspezifischen Sprachverhalten sind, kurz gefaßt, die folgenden:

  1. Es gibt zwei Varietäten, “Codes”, einer Sprache, die restricted code und elaborated code genannt werden.
    • Restringierter Code wird in Situationen verwendet, wo alle schon Bescheid wissen, wo also sehr wenig explizit kodiert werden muß (wie z.B. auf einer Baustelle). Er hat kein Sozialprestige und ist, wenn deplaziert angewandt, stigmatisiert.
    • Elaborierter Code wird in Situationen verwendet, wo nichts vorausgesetzt wird und alles erklärt werden muß (wie z.B. in diesem Webskript). Er hat höheres Sozialprestige.
    Jeder beherrscht den restringierten Code. Will man sich in allen Lebenslagen verständigen (und also sozial erfolgreich sein), muß man außerdem den elaborierten Code beherrschen.
  2. Die nach sozialen Kriterien in Schichten unterteilbare Struktur einer Gesellschaft prägt analog zu den unterschiedlichen Formen sozialer Beziehungen systematisch verschiedene Sprechweisen, die ihrerseits über die Prozesse der sprachlichen Sozialisation die Sozialstruktur reproduzieren und stabilisieren, nämlich Ober-/Mittel- vs. Unterschicht: Angehörige der ersteren beherrschen beide Codes; Angehörige der Arbeiterklasse beherrschen nur den restringierten Code. Dies bedeutet für sie eine Sprachbarriere (Bernsteins Defizithypothese).
  3. Wenn ein Angehöriger der Arbeiterklasse aus seiner sozialen Schicht herauskommen will, muß er elaborierten Code lernen. Die Aufgabe der Bildungspolitik ist hier kompensatorische Spracherziehung.

Bernsteins Thesen sind leicht mißzuverstehen:

Bernsteins Thesen spielen in differenzierterer Form bis heute eine gewisse Rolle in der britischen Schul- und Sozialpädagogik, sind aber für die Entwicklung der Soziolinguistik nicht prägend geworden.


Die Arbeitsfelder der Soziolinguistik lassen sich nach verschiedenen Kriterien einteilen. Eines betrifft die betrachtete soziolinguistische Ebene:

Diesem Kriterium folgt die Untergliederung in die nächsten Abschnitte.


1 Das Volksfranzösische ist die Varietät, die die Pariser Großbürger ihrer Pförtnerin zuschreiben, die sie aber selber sprechen.

Literatur

Bernstein, Basil B. (ed.) 1971, Class, codes and control. Vol. 1: Theoretical studies towards a sociology of language, 1971; Vol. 2: Applied studies towards a sociology of language, 1972. London: Routledge & Kegan Paul (Primary socialization, language and education, 4).

Fishman, Joshua A. 1972, The sociology of language. An interdisciplinary social science approach to language in society. Rowley, Mass.: Newbury House (Current Trends in Linguistics 12/3, 1974: 1629-1784).

Himmelmann, Nikolaus 1998, "Documentary and descriptive linguistics." Linguistics 36:161-195.

Wardhaugh 1986.