Grundbegriffe

Semantischer Wandel (oder Bedeutungswandel) ist Wandel des Significatums bei Gleichbleiben oder Nicht-Berücksichtigung des Significans. Wird das Sprachzeichen als Ganzes betroffen, ist es lexikalischer oder grammatischer Wandel. Da die Semantik in der Sprache nicht so stark systematisiert ist wie die Phonologie und Grammatik, ist auch der semantische Wandel nicht in demselben Maße in Gesetze faßbar wie der phonologische und grammatische Wandel. Im folgenden werden einige Typen des semantischen Wandels illustriert, die seit langem bekannt sind und in den Sprachen immer wieder vorkommen.

Bedeutungsverallgemeinerung und -verengung

Die beiden hier zunächst zu besprechenden Typen semantischen Wandels haben mit dem Bedeutungsumfang zu tun, den man als Intension oder Extension quantifizieren kann.

Frz. arriver und ital. arrivare “ankommen” gehen auf vulgärlat. arripare “landen” (< ad-ripare “an-ufern”) zurück. Die Bedeutung wurde also vom Ankommen zu Wasser auf jegliches Ankommen verallgemeinert. Dt. Dogge und engl. dog gehen beide auf ein westgermanisches Wort der Bedeutung “großer, starker Hund” zurück. Aber im heutigen Englisch bedeutet das Wort einfach “Hund”. Auch hier ist also ein ehemals vorhandenes semantisches Merkmal weggefallen. Verringerung der Anzahl der semantischen Merkmale bedeutet Verkleinerung der Intension und also Vergrößerung der Anwendungsbreite eines Worts.

Unter den Modewörtern finden sich zu allen Zeiten auch neue Intensifikatoren. Die von der Großmutter durch kolossal ausgedrückte Intensität wirkt geringfügig neben der von der Mutter empfundenen und durch furchtbar ausgedrückten; aber sie sind beide nichts gegen die von der Tochter erlebte Intensität, für die nur unheimlich der angemessene Ausdruck ist. Ähnlich ist es mit den Evaluativa vom Typ geil, cool, krass. In solchen Fällen fallen innerhalb kürzester Zeit alle spezifischen semantischen Merkmale weg und es bleibt nur die Idee einer die Emotion ansprechenden Intensität bzw. Qualität. Dies sind also extreme Fälle von Bedeutungsverallgemeinerung.

Bedeutungsverallgemeinerung spielt auch im grammatischen Wandel eine erhebliche Rolle. Grammatische Bedeutungen sind, wie bereits im Abschnitt über syntaktische Kategorien bemerkt, hochgradig abstrakt, also allgemein. Z.B. ist die semantische Seite des grammatischen Wandels, der zur Verwendung des Verbs haben “besitzen” als Hilfsverb des Perfekts führt, ein Fall von Bedeutungsverallgemeinerung (“Bedeutungsausbleichung”). Mehr dazu unter Grammatikalisierung.

Engl. deer ist mit dt. Tier verwandt, aber es hat diese Bedeutung nicht bewahrt, sondern bedeutet “Reh”. Ebenso ist engl. hound mit dt. Hund verwandt, aber auch hier ist die ursprüngliche Bedeutung eingeengt worden, und zwar auf “Jagdhund”. In beiden Fällen dürfte die Fachsprache der Jäger die Bedeutungsverengung vorgenommen haben. Hier sind also zu den ursprünglichen semantischen Merkmalen weitere aus dem Verwendungskontext hinzugekommen, die zu einer spezifischeren Bedeutung geführt haben.

Metapher und Metonymie

Engl. star bedeutet eigentlich “Stern”. Im 20. Jh. begann man, es auch zur Bezeichnung von herausragenden Personen zu verwenden. Der Ausdruck wurde also von einem ersten Bezeichneten, der Quelle, auf ein weiteres Bezeichnetes, das Ziel, übertragen. Die Operation heißt Metapher, was nichts weiter als das griechische Wort für “Übertragung” ist. Die Basis der Übertragung ist eine wahrgenommene oder konstruierte Ähnlichkeit zwischen den beiden Bezeichneten. Im Falle dieses Beispiels ist sie wahrgenommen auf der Seite der Quelle der Metapher, aber konstruiert auf der Seite von deren Ziel: wie ein Stern “glänzt” der Star und ist “hoch über” uns. Metapher ist daher die Übertragung eines Ausdrucks auf ein weiteres Bezeichnetes auf der Basis von Ähnlichkeit.

Nicht nur ein Wort, auch eine Redewendung kann metaphorisch gemeint sein. Wenn man einen Fuß in der Tür hat, so ist man, wörtlich genommen, nicht ausgeschlossen, sondern hat die Möglichkeit hineinzugehen. Die Metapher meint, daß man sich die Möglichkeit reserviert hat, in einem bestimmten sozialen Zusammenhang noch etwas zu erreichen. Hier wird eine Ähnlichkeit zwischen einem physikalischen Raum und einer sozialen Situation konstruiert. Für solche Konstruktionen gibt es Modelle, die immer wieder verwendet werden. Man kann ja auch aus einer sozialen Gruppe “ausgeschlossen” sein und keinen “Zugang” haben.

Eine andere semantische Operation liegt vor, wenn es heißt, das Weiße Haus habe etwas verlautbart. Tatsächlich hat das eine Person verlautbart, die zu der Institution des Weißen Hauses gehört und den Präsidenten, der im Weißen Haus residiert, repräsentiert. Hier wird nicht eine Ähnlichkeit zwischen einem Haus und einer Person konstruiert. Vielmehr wird eine Kontiguität zwischen den beiden vorausgesetzt. Kontiguität (wörtl. “Berührung, Aneinanderstoßen”) zwischen zwei Dingen besteht, wenn sie faktisch etwas miteinander zu tun haben, wenn das eine zum andern gehört, ein Teil davon ist, sich dort befindet und was dergleichen mehr ist. Die Anwendung eines Ausdrucks auf ein weiteres Bezeichnetes auf der Basis von Kontiguität heißt Metonymie. Sie liegt auch vor, wenn man Zunge für “Sprache” sagt (das tut man nicht nur in deutscher Zunge; die lateinischen (lingua), griechischen (glossa), russischen (jazyk) und die Wörter vieler anderer Sprachen, die die primären Bezeichnungen für “Sprache” sind, bedeuten ursprünglich “Zunge”). Und ebenso wie bei der Metapher gibt es auch hier den Fall, daß eine ganze Redewendung metonymisch gemeint ist. Die Nase rümpfen ist in erster Linie eine physiologische Reaktion, die eine Kontiguitätsbeziehung zum Widerwillen gegen Gestank hat. In metonymischer Verwendung bedeutet der Ausdruck daher “Mißfallen zeigen”. Auch die Arten von Kontiguitätsbeziehungen, welche der Metonymie zugrundeliegen, lassen sich typisieren. Sehr häufig ist z.B. die Übertragung vom Teil aufs Ganze (lat. pars pro toto), wie in Einkommen pro Kopf der Bevölkerung.

Semantischer Wandel und Variation

Die genannten vier Prozesse des semantischen Wandels sind auch Prozesse der synchronen Variation. Die abgeleitete Bedeutung ersetzt die ursprüngliche nicht von heute auf morgen, sondern tritt zunächst einmal zu ihr hinzu. Wäre das nicht so, könnte sie ja gar nicht verstanden werden. Diese semantischen Prozesse (und weitere hier nicht besprochene) führen also zunächst einmal zu Polysemie bei dem betreffenden Ausdruck. Erst in einem weiteren Schritt findet unter den alten und neuen Sinnen des Ausdrucks eine Auslese statt. Dann kann der neue Sinn den alten verdrängen, und erst dann ist der Wandel auf der diachronen Achse vollzogen.