Synchronie und Diachronie sind zwei entgegengesetzte Perspektiven auf sprachliche Phänomene. Im folgenden Diagramm ist die senkrechte Achse die Zeitachse.
Die Synchronie ist die Beziehung eines sprachlichen Phänomens zu den gleichzeitig im Sprachsystem existierenden Phänomenen. Sie betrifft ein Sprachstadium und impliziert, bezogen auf die Sprachentwicklung, eine statische Sicht der Sprache.
Die Diachronie ist die Beziehung eines sprachlichen Phänomens zu solchen Phänomenen, die ihm in einem vorangehenden oder folgenden Stadium der Sprache entsprechen. Sie betrifft den Sprachwandel und impliziert, bezogen auf die Sprachentwicklung, eine dynamische Sicht der Sprache.
Beide Begriffe werden häufig in verschiedener Weise mißverstanden:
- Es gibt keine sychronen oder diachronen Phänomene und folglich auch kein Phänomen, das sich nur synchron oder nur diachron linguistisch beschreiben oder erklären ließe.
- Keine der beiden Perspektiven hat Vorrang vor der anderen; sie ergänzen einander.
- Es ist nicht der Fall, daß eine linguistische Beschreibung entweder rein synchron oder rein diachron sein müßte. Im Gegenteil, da die beiden Perspektiven einander ergänzen, kann man nur unter beiden zusammen ein Sprachphänomen vollständig erkennen. Erforderlich ist nur, daß man die beiden Perspektiven methodisch sauber getrennt hält.
- Synchronie ist nicht die Betrachtung einer Sprache in ihrem heutigen Zustande. Es gibt synchrone Beschreibungen antiker Sprachstufen.
- Ebenso wenig ist die Diachronie notwendigerweise auf die Vergangenheit bezogen.1 Auch eine Untersuchung, die die künftige Entwicklung einer Sprache prognostiziert, ist eine diachrone.
- Diachronie ist nicht dasselbe wie Geschichte:
- Eine geschichtliche oder historische Betrachtung eines sprachlichen Phänomens setzt voraus, daß es durch Dokumente belegt ist; eine diachrone Betrachtung erfordert lediglich eine zeitliche Dynamik. Daraus folgt, daß man auf prähistorische – insbesondere rekonstruierte – sprachliche Phänomene eine diachrone Perspektive nehmen kann, aber per definitionem keine historische.
- Diachronie ist - ebenso wie Synchronie - eine systematische Perspektive, die einen Gegenstand in einer bestimmten Hinsicht betrachtet. In der Linguistik ist das i.a. das Sprachsystem bzw. Teile davon.2 Sprachgeschichte dagegen beschränkt sich gerade nicht auf die Geschichte des Sprachsystems, sondern bezieht auch die sog. äußere Geschichte der Sprache ein.
- Eine historische Betrachtung setzt ein Phänomen in Beziehung zum sozialen, kulturellen, politischen usw. Kontext und sucht es so als historisch bedingt und ggf. einzigartig zu verstehen. Eine diachrone Betrachtung tut dies alles nicht, sondern sucht eine sprachsysteminterne Dynamik, der das Phänomen unterworfen ist. Es gibt diachrone Gesetze, aber es gibt keine historischen Gesetze.3
1 Ähnliches gilt für Historisches. Vor allem das englische Wort historical hat in informellem Gebrauch die Implikation “auf frühere Zeiten bezogen”. Aber ein historisches Phänomen ist ein zeit- und kulturgebundenes (i.Ggs.z. einem natürlichen) Phänomen. Solche gibt es immer, auch heute und morgen.
2 Wegen der die beiden Definitionen konstituierenden unterschiedlichen Beziehungen wird das Sprachsystem üblicherweise nur in synchroner Perspektive als solches konzipiert. Das liegt aber lediglich daran, daß es sehr aufwendig ist, die Diachronie ganzer Sprachsysteme zu konzipieren und zu beschreiben. Und andererseits erfassen auch die wenigsten synchronen Studien das gesamte Sprachsystem.
3 Die Verwechslung von Diachronie und Geschichte ist in der Linguistik ausgesprochen häufig und kommt außerhalb ihrer praktisch nicht vor. Dies liegt offensichtlich daran, daß Linguistik – anders als alle anderen an Geschichte interessierten Disziplinen – nach Generalisierungen sucht und daß viele Linguisten tatsächlich mehr an diesen als an historischen Fakten interessiert sind.
Zudem wird in anglophoner Linguistik das Adjektiv historical häufig anstelle von diachronic gebraucht. Z.B. erscheint 2022 The Cambridge Handbook of Historical Syntax. Ein solches Handbuch ist bereits rein begrifflich schwer vorstellbar. Das Inhaltsverzeichnis schafft dann restlose Klarheit, dass es sich um ein Handbuch über diachrone Syntax handelt.